© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/21 / 15. Oktober 2021

Menschheit in der Sackgasse
Vor hundert Jahren wurden die Ökopioniere Hoimar von Ditfurth und Herbert Gruhl geboren
Volker Kempf

Ein zwölfjähriger Junge steht tief in der Nacht auf, um durch ein Fernrohr zu schauen. Der begabte Schüler des Potsdamer Viktoria-Gymnasiums hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Bewegung der Jupitermonde im Zeitverlauf zu verfolgen. Doch schon bald wurde dieser am 15. Oktober 1921 geborene Junge aus den Weiten des Weltraums gerissen: Hoi-mar von Ditfurth begann nach dem Abitur 1939 ein Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Nach dem Physikum wurde er 1941 zur Wehrmacht eingezogen und bis Ende Februar 1942 an der Ostfront eingesetzt.

Doch er hatte – anders als viele seines Jahrgangs – enormes Glück: Als Sanitätssoldat konnte er seine Ausbildung fortsetzen und 1946 an der Universität Hamburg promovieren. Er arbeitete am Uniklinikum Würzburg und wurde später Professor für Neurologie und Psychiatrie. Astronomie und Neurologie, so verriet Ditfurth in seinen „Innenansichten eines Artgenossen“ (1989), lägen eng beieinander. Denn der Blick ins Weltall warf in ihm zwangsläufig erkenntnistheoretische Fragen auf: Wir vermeinen Dinge im Teleskop zu beobachten, die schon Jahrtausende zurückliegen.Und die Sterne leuchten auch, wenn wir sie am Himmel nicht sehen. Vor allem führt die Astrophysik zu Wirklichkeitsannahmen, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen. Ebenso die Religion schloß er, der auch Psychologie und Philosophie studiert hatte, ein. Daß wir „Kinder des Weltalls“ (1970) sind, forderte ihn heraus, sich nicht einseitig auf die Seite der Naturwissenschaften zu schlagen, weil sie viele Welträtsel und letzte Fragen offen lasse, um auf der anderen Seite gegen einen religiösen Fundamentalismus zu immunisieren. Die Evolution des Lebens blieb für ihn zentral, welche er auf die Lebensdauer des Universums erweitert betrachtete. Das Weltall sei noch jung, zumindest sei noch nicht Halbzeit. Der Mensch mag sich als „Krone der Schöpfung“ wähnen, aber nur als Momentaufnahme, in der er ein Übergangswesen zwischen Mensch und Tier sei.

Ditfurths Existenz als Wissenschaftsjournalist begann bei dem großen Mannheimer Pharmaunternehmen Boehringer, dessen Ärztezeitschrift Naturwissenschaft und Medizin er leitete, um sie mit hochkarätigen Beiträgen zu füllen, darunter von Konrad Lorenz, mit dem er bereits beruflich zu tun hatte. Weitere Nobelpreisträger sollten hinzukommen. Einem Millionen-Publikum in West und Ost machte sich der gebürtige Berliner 1971 mit der ZDF-Sendung „Querschnitt“ einen Namen, die er zusammen mit Volker Arzt gestaltete und bis 1983 leitete. Sein wohl bekanntestes Buch erschien 1986 – drei Jahre vor seinem Tod: „So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit“. Es ist dies eine schonungslose Analyse der Situation der „Kinder des Weltalls“, die wir sind, die mit ihrer Zivilisation sich in eine Sackgasse begeben hätten. Diagnose: Biosphärischer Zusammenbruch in Zeiten kriegerischer Selbstauslöschungspotenzen. Das Grundproblem sei der Bevölkerungszuwachs und eine Entwicklungshilfe, die dem nichts entgegensetzen könne.

Ähnliches sagte er auch in seinen Fernsehsendungen – inzwischen für einen ZDF-Journalisten wohl undenkbar. Und natürlich ist auch von der Verschmutzung von Luft und Wasser die Rede, vom anthropogenen Treibhauseffekt, Waldsterben und Ozonloch. All diesen Herausforderungen stünden Beharrungskräfte in der Politik gegenüber, die einen verzweifeln lassen könnten. Da sei es verständlich, quasi mit Feuer im Herzen (seine Tochter Jutta Ditfurth) das bestehende System verwerfen zu wollen – was aber nicht weiterführe.

Dennoch Apfelbäumchen auf dem geplünderten Planeten pflanzen

Eine Absage an das marktwirtschaftliche System oder ein Plädoyer für Ökosozialismus wird man bei Hoimar von Ditfurth nicht finden, aber kritische Gedanken darüber, das Wachstumsdenken auf die Spitze treiben zu wollen und andere Werte des Daseins dabei zu vernachlässigen. Er kam in seinem Apfelbäumchen-Buch ins Nachdenken über die Bedeutung der Rolle von Geburt und Tod als einer begrenzten Zeitspanne. Wenn wir die „Augen verschlössen vor dem bevorstehenden Ende“, dann wäre die Not größer als sie ohnehin sei. Im Angesicht eines absehbaren Endes bot Ditfurth Martin Luther auf: „Komm, lieber Jüngster Tag.“ Gefolgt von dessen Ausspruch: „Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, so würde ich doch heute mein Apfelbäumchen pflanzen.“, der in abgewandelter Form zum Titel seines Buches wurde.

Der Wissenschaftler sah in Bildern eine Kraft, die das menschliche Gehirn in tieferen Schichten erreiche als abstraktes Wissen. Die Kraft der Bildsprache bedeutete für ihn, auf alte Zeugnisse wie die Bibel zu setzen. Von den „apokalyptischen Reitern“ sprach er, oft von einer drohenden Apokalypse. Zu wenig Angst mache die drohende Gefahr der Selbstzerstörung der Menschheit. Ditfurth wollte aufrütteln. Das Ökologiethema ängstigt auch viele Menschen, nur rationales Handeln, das ihm so wichtig war, geht daraus nicht unbedingt hervor. Heute machen das die „Fridays for Future“-Schulschwänzer und die vielfache grüne Symbolpolitik deutlich. Die Realität und die mit ihr kompatiblen Handlungsmöglichkeiten richtig einzuschätzen ist mit Unsicherheiten behaftet.

Er hatte mit Momentaufnahmen die Situation als dramatisch dargestellt, einiges konnte aber bei allen Beharrungskräften auch abgemildert werden. Einwände, der Planet Erde werde zwölf Milliarden Menschen ernähren können, erwiderte von Ditfurth in einem Streitgespräch mit Prälat Leopold Ungar (Leiter der Caritas Österreich) damit, daß es nicht nur um Nahrungsaufnahme gehe. Diese immer mehr Menschen bräuchten Arbeit und hätten weitergehende Lebensansprüche, die sich für die Erde und ihr Ökosystem auch destruktiv auswirkten.

Mit seinen Ansichten stand er nicht alleine. Der eine Woche jüngere Landwirt und Philosoph Herbert Gruhl hatte schon 1975 als CDU-Umweltpolitiker in seinem Bestseller „Ein Planet wird geplündert“ präzise auf die planetarischen Grenzen der Erde hingewiesen – und nach verbleibenden Möglichkeiten unseres Wirtschaftens gefragt. Handlungsoptionen sah Gruhl, bis 1977 Vorsitzender des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND), in der Marktwirtschaft und einem demokratischen System. Der gebürtige Sachse wurde aber in seiner Partei unter Helmut Kohls Führung in den Leerlauf gelenkt – was der Bundeskanzler a.D. später aufrichtig bedauerte.

Denn das begünstigte eine neue deutsche Partei: Die Grünen. Die brachte Gruhl 1979 noch mit auf den Weg. Aber wegen der bald einsetzenden Linksdrift verließ er die Partei schon 1981 wieder. Dennoch ließen sich viele von Gruhl inspirieren und wurden über Parteigrenzen hinweg umweltpolitisch aktiv. Gruhls Fazit „Himmelfahrt ins Nichts – Der geplünderte Planet vor seinem Ende“ aus dem Jahr 1992 sollte eine ernüchternde Bilanz abgeben, derjenigen von Hoimar von Ditfurth ähnlich. Einen Trost spendenden Luther bot Gruhl nicht auf, widmete ihm aber einen Aphorismus mit einer eigenen Pointe: „Zu Luthers unverbürgtem Wort, er würde auch noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn morgen die Welt unterginge: Typisch! Auch in seinen letzten Stunden kann der Mensch das Arbeiten nicht sein lassen.“

Volker Kempf ist Soziologe und Vorsitzender der Herbert-Gruhl-Gesellschaft.  herbert-gruhl.de

Fotos: Herbert Gruhl 1992 in Köln: Wegen der bald einsetzenden Linksdrift verließ er die 1979 von ihm mitgegründeten Grünen schon 1981; Moderator Volker Arzt (l.) und Hoimar von Ditfurth in der ZDF-Sendung „Querschnitt“: Das Grundproblem sei der Bevölkerungszuwachs und eine Entwicklungshilfe, die dem nichts entgegensetzen könne