© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Berlin kann alles außer alles
Wahlchaos: In der Hauptstadt ist ein erneuter Urnengang nicht ausgeschlossen / Das Linksbündnis soll fortgesetzt werden
Ronald Berthold

War es Betrug? Nicht wenige Berliner fühlen sich hintergangen. Und dabei reden sie nicht nur vom skandalösen Wahltag. Sie meinen Franziska Giffey. Die Landesvorsitzende der Hauptstadt-SPD hatte im Wahlkampf suggeriert, nicht mit Grünen und Linken weitermachen zu wollen. Aber nun verhandelt Rot-Rot-Grün die Neuauflage seines Bündnisses, das Ende November stehen soll. Es läuft alles auf die einerseits gefürchtete, andererseits mit überwältigender Mehrheit wiedergewählte Koalition zu, die ein beispielloses Chaos zu verantworten hat.

Die zahlreichen Pannen bei der Stimmabgabe sind dabei das weltweit sichtbare Symbol für den Zustand, in den SPD, Grüne und Linke Deutschlands Hauptstadt gebracht haben. Selbst die OECD will den Berichten ihrer Wahlbeobachter besondere Aufmerksamkeit schenken. In einer Art Selbstanzeige hat Landeswahlleiterin Petra Michaelis inzwischen erklärt, den Urnengang zur Abgeordnetenhauswahl anfechten zu wollen.

Auch das ist typisch für Berlin. Die Beamtin war zurückgetreten und regelrecht untergetaucht. Sie hatte angekündigt, kein Wort mehr zu den vielen Unregelmäßigkeiten sagen zu wollen, verkündete dann aber vergangene Woche das offizielle amtliche Endergebnis. Dabei räumte sie ein, daß es in 207 von 2.257 Wahllokalen zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Ihre Einschätzung: „Wir haben unser Bestes gegeben.“ Außerdem sei in „weit mehr als 2.000 Wahllokalen alles in Ordnung“ gewesen.

„Ich glaube nicht an Einzelfälle“

Doch nicht einmal das stimmt: 84.000 Berliner waren von zwischenzeitlichen Schließungen der Wahllokale betroffen. 773 Wahllokale mußten länger öffnen, weil zwischenzeitlich keine Zettel verfügbar waren. Dies stelle „keinen Wahlfehler“ dar, meint Michaelis. Bereits fünf Wochen vor der Wahl, räumte sie ein, habe sich das Chaos angekündigt. Damals seien Kartons mit falsch einsortierten Stimmzetteln aufgefallen. Die Warnungen, die sie ausgesprochen habe, seien verpufft.

Den Pressetermin nutzte die Zurückgetretene auch, um den schwarzen Peter an Innensenator Andreas Geisel (SPD) weiterzureichen: Im Vorfeld habe es viele Besprechungen gegeben, an denen dessen Verwaltung teilgenommen habe. Diese war demnach in die Planungen „eingebunden“. Hölzern sagte Michaelis: „Ich kann davon ausgehen, daß die Hausleitung für Inneres und Sport über die Vorbereitungen unterrichtet war.“ Hausleiter ist Geisel.

Die Berliner Zustände riefen nun sogar den Bundeswahlleiter auf den Plan. Georg Thiel kündigte an, „weiter eingehend“ zu prüfen, ob er Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl in einzelnen Wahlkreisen von Berlin einlegen werde. Damit steht sogar das Endergebnis der deutschlandweiten Abstimmung in Frage. Die Vorfälle seien, so Thiel, überwiegend auf organisatorische Mängel zurückzuführen, die alle vermeidbar gewesen wären.

Berlins AfD-Chefin Kristin Brinker reagierte mit einem indirekten Vorwurf an den Innensenator. „Ich möchte der Landeswahlleiterin Michaelis meinen tiefen Respekt aussprechen“, sagte die Spitzenkandidatin: „Sie ist die einzige, die Verantwortung übernommen hat.“ In Zynismus floh die FDP, auch mit Blick auf die chaotischen Zustände am neuen Flughafen: „Wir können alles, außer alles“, kommentierte der Parlamentarische Geschäftsführer Paul Fresdorf.

Zunächst hatte der Senat noch schöngeredet, daß Minderjährige und Ausländer an der Abgeordnetenhauswahl teilnehmen konnten, daß Stimmzettel fehlten oder vertauscht waren, daß deswegen Stimmen ungültig gemacht werden mußten, daß es örtlich Wahlbeteiligungen von bis zu 150 Prozent gab, daß Wahlwillige nach Hause geschickt wurden und Wahllokale teils noch bis kurz vor 21 Uhr öffnen mußten. Doch die Landesregierung hatte die Verantwortung dafür abgelehnt. Als immer mehr Pannen bekannt wurden, sagten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Geisel, sie gingen nicht davon aus, daß die Wahl durch die Fehler verfälscht worden sei. Jetzt aber hält sich Geisel sogar „ausdrücklich“ offen, die Wahl beim Berliner Verfassungsgerichtshof anzufechten.

Dieses Ablenkungsmanöver soll den rot-rot-grünen Senat vom Verantwortlichen zum Aufklärer machen. Zu dieser Strategie gehört auch der Plan des Innensenators, im November eine Expertenkommission zur Aufarbeitung des Desasters einzusetzen. Dort wolle er „Praktiker, Wissenschaftler, Persönlichkeiten aus der Justiz und einer breiten Zivilgesellschaft“ versammeln. Namen nennt er jedoch nicht. Sein Ziel: „Wir müssen überprüfen, ob die Wahlämter in den Bezirken und im Landeswahlamt neu aufgestellt und aufgestockt werden.“

Wenn es nach Geisel und Michaelis geht, soll der Urnengang nur in zwei Wahlkreisen, nicht in ganz Berlin, wiederholt werden. 62.000 Hauptstädter würden dann noch einmal abstimmen – 2,5 Prozent der Wahlberechtigten. Eines der beiden nun in Frage gestellten Direktmandate ging an den AfD-Politiker Gunnar Lindemann. 

Der Berliner Landesverfassungsgerichtshof wird entscheiden, ob die gesamte Wahl ungültig war. Einsprüche können Parteien und Abgeordnete – nicht die Wähler – erst einreichen, wenn das Endergebnis im Amtsblatt veröffentlicht ist. Das kann aber noch dauern. Zwei bis drei Wochen gibt sich die Landesregierung für diesen Schritt Zeit. Die AfD hat Einspruch angekündigt: „Jede einzelne Serie von Vorfällen könnte bereits mandatsrelevant sein. Zusammengenommen sind sie es auf jeden Fall“, so Landeschefin Brinker.

„Objektive Wahlrechtsverstöße“ sieht der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages, Patrick Sensburg (CDU). Auch bei der Bundestagswahl müsse man genau bewerten, was in Berlin passiert sei: „Ich glaube nicht an Einzelfälle, die keine Auswirkungen hatten. Immerhin geht es hier um fast 2,5 Millionen Wahlberechtigte. Zum Vergleich: im Saarland waren rund 750.000 Menschen zur Wahl aufgerufen.“ Sensburg: „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Berlin muß die Wahl wiederholen, und zwar rechtmäßig.“

Wie wenig vertrauenerweckend auch noch die Auszählung ablief, belegt der gleichzeitig stattgefundene Volksentscheid über die Enteignung größerer Immobilienunternehmen. 57,6 Prozent der Wähler stimmten dafür. Nach dem vorläufigen Ergebnis waren es noch 1,2 Punkte weniger gewesen – eine ungewöhnlich hohe Abweichung.

Rot-Grün-Rot verhandelt nun in Koalitionsgesprächen, wie mit dem Referendum umzugehen ist. Linke und Grüne wollen die Vergesellschaftung, die SPD zögert noch. Auch hier soll – wie bei der Aufklärung des Wahlskandals – eine Expertenkommission helfen, die ein Jahr beraten soll. In Berlin kann so etwas aber durchaus länger dauern.

Viel Kritik zieht SPD-Chefin Giffey auf sich, weil sie im Wahlkampf angedeutet hatte, sich auch eine Zusammenarbeit mit CDU und FDP vorstellen zu können. Letztlich sondierte sie nur mit den Liberalen – und das sehr kurz. Auf Druck der weitgehend linken Funktionäre und der Grünen soll nun aber alles beim alten bleiben. Ausschließlich mit Rot-Grün-Rot könne der „Stadtumbau“ weitergehen.

Die FDP wirft der SPD vor, „die Grundlage ihres Wahlkampfes verraten“ und die „Chancen für einen wirklichen Neustart der Senatspolitik verspielt“ zu haben. Parteichef Christoph Meyer sagt über Giffey: „Sie muß sich die Frage gefallen lassen, wer in ihrer Koalition jetzt eigentlich das Sagen hat.“ Im Wahlkampf habe sie offenbar als „Vertreterin ohne Vertretungsmacht gehandelt“. Ihr versprochener Wandel entpuppe sich „als leere Worthülse“. Das Boulevardblatt BZ erklärt Giffey wegen des Wortbruchs zur „verlierenden Regierenden“.

Ihre designierte Koalitionspartnerin, die Grünen-Vorsitzende Bettina Jarasch, die selbst gern Senatschefin geworden wäre, strotzt vor Selbstbewußtsein. Für die Verhandlungen drohte sie Giffey „harte Gespräche“ an. Es werde womöglich „die berühmte Nacht der langen Messer“ geben.

Geeinigt haben sie sich schon jetzt darauf, daß der geplante 17. Bauabschnitt der Stadtautobahn in Richtung Osten nicht kommt. Außerdem werden die alten und neuen Partner einen „Senatsausschuß Klimaschutz“ schaffen, der ressortübergreifende Machtfülle erhalten soll. Das Wahlalter wird auf 16 Jahre gesenkt, und alle Lehrer werden verbeamtet.

Für das Sahnehäubchen im Berliner Wahlchaos sorgte dann am Montag die folgende Posse: Für das Abgeordnetenhaus gab es zwei Kandidaten namens Andreas Otto; der eine trat für die FDP im Stadtteil Reinickendorf an, der andere für die Grünen in Pankow. Gewählt wurde nur einer, nämlich der Grüne. Doch die offizielle Benachrichtigung der Landeswahlleiterin, ob er das Mandat annehme, erhielt der Namensvetter von den Liberalen, der nur auf 5,3 Prozent gekommen war.

Fotos: Warteschlange vor dem Wahllokal in einer Schule in Berlin-Friedrichshain: Jeder einzelne Vorfall könnte mandatsrelevant sein; Franziska Giffey (SPD, links) und Bettina Jarasch (Grüne, auch links): „Harte Gespräche“