© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Das Ende der Spaßgesellschaft
Veränderte Milieus: Die traditionelle bürgerliche Mitte verschwindet / Mehrheit der Deutschen sieht das Land im Niedergang
Björn Harms

Einer der wichtigsten Träger des deutschen Staates, die traditionelle bürgerliche Mitte, schrumpft von Jahr zu Jahr und zerfällt in unterschiedlichste Gruppen. Das ist die wohl zentralste Erkenntnis des Sinus-Instituts, das seine bekannten Milieu-Zuordnungen Anfang Oktober in einer neuen Studie komplett überarbeitet vorgelegt hat. Seit über vier Jahrzehnten erforschen die Sozialwissenschaftler aus Heidelberg die Lebenswelten und den Wertewandel der deutschen Bevölkerung. Ihre Erkenntnisse fassen die Forscher in den sogenannten Sinus-Milieus zusammen, die Gruppen von Menschen mit ähnlichen Werten und vergleichbarer sozialer Lage abbilden. 

Seit 2010 gibt es zehn dieser Sinus-Milieus. In den vergangenen Jahren haben sich diese jedoch stark verändert. Manche sind geschrumpft oder verschwunden, andere dafür gewachsen oder neu dazugekommen. Ob Klimawandel, Migration, Digitalisierung oder die soziale Frage: „Diese Megatrends haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu einer Veränderung des Milieupanoramas geführt“, schreiben die Forscher. 

Die entscheidendste Dynamik gehe aktuell von der Mitte der Gesellschaft aus. „Der statusoptimistische Teil modernisiert sich und blickt nach oben“, heißt es in der Studie. „Der harmonieorientierte, größere Teil sieht seinen Lebensstil und seine Prinzipien gesellschaftlich entwertet, zieht sich verbittert zurück und grenzt sich verstärkt nach unten und nach oben ab.“ Die Angst vor dem Abstieg greift in der Mittelschicht um sich. Der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert, die Spaltung nimmt zu. „Früher hieß es: ‘Unsere Kinder sollen es mal besser haben.’ Heute sagen Eltern: ‘Hauptsache, kein Hartz IV.’“, kommentiert Sinus-Geschäftsführerin Silke Borgstedt in der Welt. Das traditionelle Milieu der Kleinbürger und Arbeiter mit seinem bodenständigen Lebensstil schrumpfe zusehends. „Diese Gruppe fühlt sich oft nicht mehr in ihren Bedürfnissen gesehen“, erklärt Borgstedt. „Auch deshalb, weil viele Debatten komplett an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei geführt werden.“

Konsumorientierte zunehmend  genervt vom Nachhaltigkeits-Hype

Die wachsende Beklemmung dieser Schichten unterstützen auch die Ergebnisse der am vergangenen Donnerstag veröffentlichten „Zukunftsstudie 2021“. Demnach stimmten 61 Prozent der Befragten der Aussage „Deutschland steht vor einem Niedergang“ zu, wie es in der repräsentativen Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Rheingold heißt. „Mangelndes Vertrauen in Staat und Institutionen“ sowie „die Angst vor gesellschaftlicher Spaltung“ hätten den „Rückzug in private Nischen“ beschleunigt. Die erschütternde Erkenntnis: „Die Mehrheit der Deutschen befindet sich in einem ‘NoFuture’-Modus“, schreibt das Kölner Unternehmen. Optimismus für die Zukunft speise sich eher aus dem Glauben an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten (79 Prozent), der eigenen Familie (79 Prozent) und dem persönlichen Umfeld (81 Prozent). 

Laut Sinus-Institut haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die gesellschaftlichen Leitwerte massiv verschoben. Auch daher rühre das Gefühl des Abgehängtwerdens. 

Mittlerweile ist etwa Nachhaltigkeit als zentrales Lebensgefühl in den Mainstream eingedrungen. Aufgrund der wachsenden Bedeutung von Nachhaltigkeit und Klimaschutz seien Liberal-Intellektuelle und Sozialökologische zum Postmateriellen Leitmilieu zusammengewachsen. Eine neue Elite hat sich gebildet. Doch Nachhaltigkeit muß man sich eben leisten können. In Teilen der unteren Mittelschicht steige deshalb „die Sorge um Teilhabe und die Befürchtung höherer Kosten“. Gleichzeitig hätten sich auch ältere, traditionelle Lebenswelten teilweise modernisiert. „Diversität hat sich als neue soziale Norm etabliert.“ 

Auch abseits des neuen ökologischen Bewußtseins beobachten die Sozialforscher „in anderen Milieus einen Rückzug der hedonistischen Mentalität“. Die Spaßgesellschaft der 1980er und 1990er Jahre findet allmählich ihr Ende. Doch ein Teil will sich offenbar nicht so richtig damit abfinden: „Der auf Konsum und Entertainment fokussierte Teil der Hedonisten versteht sich inzwischen als Teil der neuen Mitte und als Bollwerk gegen einen übertriebenen Nachhaltigkeits-Hype“, schreiben die Studienautoren. Geschäftsführerin Borgstedt ergänzt: „Die Spaß-affine untere Mittelschicht ist zunehmend genervt vom Diktat der Political Correctness.“

Die sozialen Milieus sind also weiter in Bewegung. Sie können sich durch unvorhergesehene Ereignisse schnell ändern. In Zeiten der Corona-Pandemie etwa hatten viele darauf gehofft, daß sich eine solidarischere Gesellschaft entwickelt. Doch das Gegenteil sei richtig, lautet die Erkenntnis des Sinus-Instituts: Die Lebenswelten der hiesigen Bevölkerung dürften auch künftig weiter auseinanderdriften.

Foto: Abstieg der bürgerlichen Mitte: Manche Mileus sind geschrumpft oder verschwunden, andere dafür gewachsen oder neu dazugekommen