© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Atomkraft? Ja, bitte!
Eine Lanze für die Kernkraft brechen: Zwei offene Briefe sprechen den Elefanten im Raum an – daß wir nicht auf Kernenergie verzichten können, wenn wir gleichzeitig CO2-arm produzierten, günstigen Strom haben wollen
Marc Schmidt

Wenn alles so bleibt, wie es derzeit aussieht, werden die Grünen an der Dreierkoalition der nächsten Bundesregierung beteiligt sein. Damit bleibt es beim Irrweg deutscher Energiepolitik. Andere europäische Länder sind indes dabei, die Weichen anders zu stellen.

In einem offenen Brief an die EU-Kommission haben sich unter französischer Führung 15 Minister aus zehn EU-Mitgliedstaaten für die Nutzung von Kernenergie ausgesprochen, darunter der bekannte slowakische Vize-Ministerpräsident Richard Sulík. „Kernenergie ist eine saubere, sichere, unabhängige und wettbewerbsfähige kohlenstoffarme Energiequelle“, schreiben die Minister, die weit überwiegend aus den früheren Ostblockländern kommen, der europäischen Öffentlichkeit ins Stammbuch. Beim Kampf gegen Treibhausgas-Emissionen müsse die Kernenergie „ein Teil dieser Lösung“ sein. Sie verhindere, „daß die europäischen Verbraucher Preisschwankungen ausgesetzt sind, wie wir sie derzeit bei den Gaspreisen erleben“ – eine Spitze gegen Deutschland.

„In mehr als 60 Jahren hat die europäische Nuklearindustrie bewiesen, daß sie zuverlässig und sicher ist. Sie gehört zu einem der am stärksten reglementierten Wirtschaftszweige der Welt, mit 126 in Betrieb befindlichen Kernkraftreaktoren in 14 europäischen Staaten.“ Diese hätten nach europäischem Recht einen Anspruch, ihren Energiemix länderspezifisch zu gestalten und CO2-freie Energieproduktionen mit europäischem Siegel durch Investoren fördern zu lassen.

Auch in Deutschland haben sich 28 Spitzenforscher und Intellektuelle öffentlich für einen Weiterbetrieb der letzten deutschen Kernkraftwerke ausgesprochen. Die vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Physiker, Klimaforscher, Energieanalytiker, Politikwissenschaftler, Umweltschützer und Lobbyisten plazierten Mitte vergangener Woche ihren offenen Brief „an alle Deutschen“ publikumswirksam auf welt.de. „Der Elefant im Raum ist, daß Deutschland die Kohlenstoffemissionen seines Energiesystems dadurch erhöht, indem es aus der Kernenergie aussteigt. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Dekarbonisierung der Elektrizitätswirtschaft die Hauptstrategie ist, um effektiv zu einem Energiesystem mit null Nettoemissionen zu kommen.“

Die um zwei Jahrzehnte vorfristige Abschaltung der verbliebenen deutschen KKWs mit einer installierten Leistung von acht Gigawatt, „die derzeit für zwölf Prozent der deutschen Jahresstromproduktion sorgt, wird unweigerlich zu rund 60 Millionen Tonnen zusätzlicher Kohlenstoff­emissionen pro Jahr führen“. Zu den Unterzeichnern des Appells zählen der frühere Chefredakteur der Zeit Theo Sommer, der Harvard-Kognitionswissenschaftler Steven Pinker, die Mitgründerin der Umweltschutzorganisation „Saving Our Planet“ Liza Tóth sowie die Osteuropahistorikerin und Atomexpertin Anna Veronika Wendland (JF 29/19). Allerdings wird dieser Appell unter dem derzeitigen politischen Klima die gleichen Chancen haben wie ein Friedensvertrag zwischen Asterix im gallischen Dorf und den umzingelnden Römern.

Die 126 europäischen Reaktoren gehören, wie die meisten der weltweit betriebenen 444 Kernkraftwerke, zu Reaktoren der 2. und 3. Generation. Weltweit befinden sich weitere 52 Kernkraftwerke im Bau, im wesentlichen Typen der Generation 3 und 3+, leistungsstärkerer Weiterentwicklungen, welche zum Teil auch Uran durch das besser verfügbare Thorium als Brennmaterial ersetzen. Hinzu kommen konkrete Planungen von 112 weiteren Reaktoren, was das IPCC-Szenario mit einem weltweiten Kernenergieanteil von 20 Prozent statt der aktuellen zehn Prozent im Jahr 2020 realistisch erscheinen läßt. Neben den klassischen Reaktortypen befinden sich unter den geplanten Kernkraftwerken verschiedene Bauweisen der sogenannten Brüterreaktoren der 4. Generation, die am Ende des Energiegewinnungsprozesses mehr spaltbares Material für Brennstoffe zur Verfügung stellen, als hineingegeben worden ist. In der Brütertechnik war Deutschland führend, das Kraftwerk Kalkar war fertiggestellt und betriebsbereit, wurde jedoch durch den Anti-Atom-Kurs der SPD in Nordrhein-Westfalen zu einem Milliardengrab.

Hinzu kommen Höchsttemperaturreaktoren, die auf der ursprünglich deutschen Idee des Kugelhaufenprinzips basieren mit ihrer optimalen Anordnung der Brennelemente, und die ersten für die Wüste geeigneten Reaktoren, die statt mit Wasser durch Flüssigsalz gekühlt werden, was weitere sicherheitstechnische Vorteile beinhaltet.

Die internationale Kraftwerksforschung schreitet entsprechend schnell voran, und die Masse der G20-Regierungen befördert diese Entwicklung. Bisher wurden weltweit 169 Kernkraftwerke stillgelegt und für gewöhnlich am selben Standort durch modernere Anlagen ersetzt. Bis Ende 2022 sollen sechs moderne, voll funktionsfähige deutsche Kernkraftwerke auf der Abschaltliste hinzukommen, zugleich werden bis dahin weltweit voraussichtlich fünf Kernkraftwerke und mindestens 40 Kohle- und Gaskraftwerke in Dienst gestellt. Die deutsche Energiepolitik gleicht also dem berühmten gallischen Dorf, nur leider ohne Zaubertrank und Helden – und umgeben von technisch überlegenen Römern, welche sich eigentlich nicht mehr für die seltsamen deutschen Sonderlinge interessieren.





Anschwellende Zukunftsmusik: der Zwei-Flüssigkeiten-Reaktor

Der Dual-Fluid-Reaktor ist CO2-frei und abfallarm. Er trennt Brennstoffzufuhr und Wärmeabfuhr

Der Zwei-Flüssigkeiten-Reaktor (Dual-Fluid-Reaktor, DFR) ist das Konzept eines Kernkraftwerks der Generation IV, das mit flüssigen statt festen Kernbrennstoffen betrieben wird. Erfunden von einem sechsköpfigen Team Berliner Kernphysiker um Armin Huke, besteht der Clou in der Trennung der Funktionen Brennstoffzufuhr und Wärmeabfuhr. Man erhält so zwei parallele Kreisläufe, die in ihrer jeweiligen Funktion optimiert werden können. Er erzeugt sogar aus dem zu Unrecht verschrienen Atommüll Unmengen von Energie: Abgebrannte Brennelemente werden zermahlen, chemisch geeignet umgewandelt und im DFR weiter abgebrannt. Auf ein Endlager kann verzichtet werden. Wegen der atomfeindlichen Einstellung der alten wie einer neuen Bundesregierung erhält er keine staatlichen Forschungsgelder. Als einziger der Reaktortypen der Generation IV ist er komplett neu. Die Erfinder haben das Funktionsprinzip in mehreren Staaten patentieren lassen – und gründeten im Februar 2021 das kanadische High-Tech-Unternehmen Dual Fluid Energy Inc., um in einem freundlicheren gesellschaftlichen Klima die Technologie zur Marktreife zu führen. „Wir haben vor, in wenigen Jahren einen Demonstrationsreaktor fertigzustellen“, sprach der Kernphysiker und CEO Götz Ruprecht mit der JUNGEN FREIHEIT über die weiteren Planungen und lobte die kanadische Infrastrukturunterstützung. Für den Demonstrations-DFR könnte sich das Gelände des staatlichen Nuklearforschungszentrums am Ottawa River als Möglichkeit ergeben. (ru)