© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Tickende Zeitbombe
Norwegen: Polizei rätselt über die Beweggründe des Täters, wurde aber schon 2017 gewarnt
Christoph Arndt

Espen Andersen Bråthen begann am frühen Abend des 13. Oktober Passanten im Zentrum der norwegischen Kleinstadt Kongsbergs mit Pfeil und Bogen anzugreifen. Die darauf eintreffende Polizei konnte ihn zunächst nicht stellen und wurde selbst in einem Supermarkt vom Schützen angegriffen, wobei ein Polizist verletzt wurde. Während die Beamten auf weitere Schutzausrüstung warteten, konnte der Täter entkommen und drang dann in mehrere Wohnungen in der Hyttegata ein, wo er die Opfer mit Stichwaffen tötete. 

Unter den Opfern, vier Frauen und ein Mann, ist auch eine aus Hannover stammende Deutsche, die in Kongsberg lebte. Der Täter wurde schließlich eine halbe Stunde nach der Alarmierung von der Polizei gestellt, verhaftet und in das Gefängnis nach Drammen gebracht.

Bråthen ist dänischer Staatsbürger und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Kongsberg. Er ist arbeitslos und war mehrfach in psychiatrischer Behandlung und hatte Besuchsverbot bei seinen Eltern, nachdem er sie mit dem Tode bedroht hatte. Zudem war er wegen Drogenbesitzes und Einbruchs vorbestraft.

Ein Jugendfreund Bråthens sagte gegenüber dem norwegischen Staatsfernsehen NRK, daß er ihn über mehrere Jahre für eine tickende Zeitbombe gehalten und bereits 2017 die Polizei gewarnt hat. Bråthen war zudem zum Islam konvertiert, so daß ein islamistisches Motiv neben der psychischen Situation als ein möglicher Auslöser gilt.

Der Chef des Sicherheitsdienstes der Polizei (PST), Hans Sverre Sjøvol, betonte auf einer Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag, daß Bråthens Tat wie eine terroristische Handlung wirke. Sjøvol konstatierte, daß die Art und Weise, wie die Tat in Kongsberg durchgeführt worden war, typisch für islamistische Angriffe in westlichen Ländern sei. Die Tatsache, daß der 37jährige weder Schußwaffen noch Sprengstoff gewählt habe, habe ihm geholfen, dem Radar der Geheimdienste zu entkommen.

Ein mögliches Behördenversagen soll untersucht werden

Laut Aftenposten war der Verhaftete bereits seit 2018 im Visier des PST, nachdem er zuvor ein Video mit islamistischem Bezug in sozialen Netzwerken hochgeladen hatte. Der PST traute Bråthen seitdem eine schwerere Tat mit relativ einfachen Waffen zu. Aktuell geht der PST von zufällig ausgewählten Opfern aus und ermittelt inwieweit ein islamistisches Motiv der Tat zugrunde liegt oder ob die Psyche des Täters die Hauptursache für die Tat sei. Polizeiinspektor Per Thomas Omholt geht  davon aus, daß Bråthen die Anschläge zumindest bis zu einem gewissen Grad geplant habe.

Bråthen wird derzeit in Untersuchungshaft auf seinen psychischen Zustand untersucht, nachdem er seit Jahren im Gesundheitswesen wegens seines psychischen Zustandes ein- und ausging, ohne jedoch eine durchgehende Behandlung zu erhalten.

Die Behörden waren schon 2015 über Bråthens Auffälligkeit und seine geringe Schwelle zur Gewaltanwendung von Nachbarn und Jugendfreunden informiert worden. Weder PST noch Gesundheitswesen hatten Bråthen in eine psychiatrische Abteilung verbracht, obwohl seine Konvertierung zum Islam und sein psychischer Zustand bekannt waren. Die zuständige Polizeidirektion ermittelt somit auch, ob Behördenversagen die Tat begünstigte.

Der Terrorangriff geschah einen Tag vor der Regierungsübernahme der rot-grünen Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Zentrumspartei, welche eine Mitte-Rechts-Regierung unter der Führung der konservativen Ministerpräsidentin Erna Solberg ablöste. Aufgrund der unklaren Motivlage und der laufenden Ermittlungen gab es jedoch keinerlei Schuldzuweisungen seitens derpolitischen Parteien.