© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Grüße aus … Moskau
Fatalistische Bescheidenheit
Thomas Fasbender

Wer in diesen Monaten aus Corona-Deutschland nach Moskau kommt, erlebt eine entspannte Stadt. Geradezu tiefenentspannt. Die Verbissenheit, mit der Deutschland gegen das Virus kämpft, ist den Russen schon zu normalen Zeiten fremd. Dabei gelten die gleichen Regeln: Maske tragen, in vielen Fällen sogar Handschuhe, vor den Kassen hängen Plexiglasscheiben. Doch was sich in der Theorie ähnelt, kann in der Praxis sehr verschieden sein. 

Keine russische Kassiererin weist einen Kunden ab, nur weil er ohne Maske vor ihr steht. Es gibt auch keine scheelen Blicke strenger Mitbürger, wenn sie mal falsch sitzt. Dennoch laufen durchaus viele mit Maske herum. 

Der Unterschied: Man trägt sie zum individuellen Selbstschutz, nicht als Zeichen kollektiver Unterwerfung. So wie man in Rußland auch selten von seinen Mitmenschen zurechtgewiesen wird, eigentlich nie. Dafür ist die Polizei zuständig, und die hat Besseres zu tun. Das gibt dem Leben eine Alltagsfreiheit, die manche fehlende politische Freiheit aufwiegt. Man kann es anders ausdrücken: In Rußland ist das System autoritär, in Deutschland die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Staunend blicken die Russen uns an, wenn wir vom deutschen Blitzkrieg gegen die Erderwärmung schwärmen.

Die Restaurants sind gut gefüllt, auch wenn die schwierigen Jahre seit 2014 Spuren hinterlassen haben. Die einst filialreichen Ketten für den schmaleren Geldbeutel sind geschrumpft. Der Verfall der Währung bedeutet auch, daß aus dem superteuren Moskau der Boomjahre, gemessen in Euro oder Dollar, ein günstiges Reiseziel geworden ist. 

Und vieles ist einfacher geworden: Taxis werden nur noch per digitaler App bestellt, U-Bahntickets kann man ab Februar per Gesichtserkennung erwerben. Überwachungsstaat? Vielleicht, aber der Fortschritt ist unaufhaltsam und Rußland vorne mit dabei.

Deutschland verstehen hier immer weniger. Warum wollt ihr eigentlich Nord Stream 2 nicht, wird man gefragt. Es begreift auch keiner, daß man bei uns ernsthaft glaubt, den Planeten retten oder das Virus ausrotten zu können. 

Vor solcher Hybris bewahrt den russischen Menschen seine fatalistische Bescheidenheit; unter allen Umständen wird er dem Heute mehr vertrauen als dem Morgen. Carpe diem. Ungläubig staunend blicken die Russen uns an, wenn wir vom deutschen Blitzkrieg gegen die Erderwärmung schwärmen. 

Doch dann hat einer in den Nachrichten von den Berliner Wahlen gehört. Wahllokale mit 150 Prozent Beteiligung, andere mit identischen Ergebnissen – und schon ist der deutsche Großmann so klein mit Hut. Willkommen in der Wirklichkeit. Deutschland und Rußland sind doch nicht so verschieden.