© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Schockstarre nach der Terrortat
Großbritannien: Antiextremismusexperten stehen nach dem Mord an Tory-Abgeordnetem im Zwielicht
Marc Zoellner

Ein Blumenmeer schmückt die Pforte der Belfairs Methodist Church im beschaulichen,  fünfzig Kilometer östlich von London gelegenen Fischerstädtchen Leigh-on-Sea. Noch am Samstag erschien Premier Boris Johnson, um gemeinsam mit Oppositionsführer Keir Starmer und Innenministerin Priti Patel den konservativen Abgeordneten Sir David Amess zu würdigen, welcher seinen Wahlkreis, in dem auch Leigh-on-Sea liegt, über 24 Jahre im britischen Unterhaus vertrat. Die Ermordung Sir Amess’ versetzt Großbritannien in Schockstarre – und wirft gleichzeitig Fragen auf über unzureichende Deradikalisierungsprogramme sowie ungenügenden Personenschutz.

Ohne Bodyguards hatte Amess vergangenen Freitag zur Bürgersprechstunde in die Methodistenkirche eingeladen, als ein 25jähriger britischer Staatsbürger, dessen Eltern in den 1990er Jahren aus Somalia nach Großbritannien eingewandert waren, auf den Abgeordneten zukam und diesen vor der versammelten Gemeinde mit mindestens 17 Messerstichen tötete. Der Täter, berichteten Augenzeugen, ließ sich im Anschluß seelenruhig von der Polizei abführen. 

Der Täter stammt eigentlich aus gutem Elternhaus: Sein Vater diente vor dessen Emigration als Diplomat im Sudan, die Familie bewohnte ein über zwei Millionen Euro teures Backsteinhaus im vornehmen Londoner Stadtteil Kentish Town. Doch bereits zu Schulzeiten radikalisierte sich der Sohn; vor fünf Jahren folgte erstmalig eine Verurteilung zur Teilnahme am staatlichen Antiterrorprogramm „Prevent“. Eine Meldung seiner Personalie an den Inlandsgeheimdienst MI5 blieb jedoch überraschend aus. 

Zum Lockdown während der Corona-Pandemie, ergaben jüngste Ermittlungen, hatte der Täter sich intensiv mit islamistischen Propagandavideos von Terrorgruppen wie Al-Kaida, dem Islamischen Staat sowie der somalischen al-Shabaab-Miliz beschäftigt.

„Die Antiterrorpolizei und das MI5 zeigten sich beizeiten schon besorgt, daß es mit mehr Menschen auf den Straßen nach dem Lockdown auch mehr Ziele für Terroristen geben könnte“, erklärte ein Sicherheitsexperte der Tageszeitung The Daily Telegraph. Geheimdienstler hatten die britische Regierung überdies vor „einer Welle von Anschlägen durch ‘Schlafzimmerradikale’“ gewarnt, fügte die Daily Mail ergänzend zu, „sogenannte ‘einsame Wölfe’, die sich dem Extremismus zugewendet haben, nachdem sie während des Corona-Lockdowns über Monate zu Hause verbrachten“.

Im Zuge der Ermordung Amess’ steht auch das mit jährlich 40 Millionen britischen Pfund alimentierte „Prevent“-Programm erneut in der Kritik. „Die Antiextremismusexperten scheinen ihre Pflicht aus den Augen verloren zu haben, nämlich Terrorismus zu verhindern“, mahnt Sam Armstrong, Sprecher der auf nationale Sicherheit spezialisierten Londoner Denkfabrik „Henry Jackson Society“. „Islamistische Fälle wurden unterbewertet sowie rechtsextreme Fälle überbewertet, und wir sehen nun die tödlichen Konsequenzen hiervon.“ 

Vor einer immer akuter werdenden Gefährdung bei öffentlichen Auftritten warnte auch Nigel Farage. „Jeder Parlamentarier muß bei öffentlichen Aufgaben einen ausgebildeten Sicherheitsbeamten bei sich haben“, begründete der Brexit-Politiker seine Forderung angesichts der Tatsache, daß es sich bei der Ermordung Sir Amess’ um den bereits dritten Messerangriff auf Abgeordnete binnen der vergangenen 20 Jahre gehandelt habe.