© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Ein kalter Frieden droht
Globalisierungsszenarien: China ist längst zum Systemrivalen für die Europäer geworden
Albrecht Rothacher

In vier Jahren soll China die USA wirtschaftlich überholt haben, Taiwan heim ins Reich holen und bis 2049 die führende technologisch-militärische Weltmacht werden. Klare Ansagen von Präsident und KP-Chef Xi Jinping also, die in Washington über die Parteigrenzen hinweg heftige Gegenstrategien auslösen. Doch bleibt die uneinige EU, die es sich mit keinem Kontrahenten verscherzen will? Und für Deutschland war China 2020 mit 95,9 Milliarden Euro nach den USA (103,8 Milliarden) der zweitwichtigste Absatzmarkt und mit 116,9 Milliarden Euro der mit Abstand größte Lieferant.

Die Bertelsmann-Stiftung entwickelte daher mit dem Industrieverband BDI fünf „Globalisierungsszenarien“, wie sich die drei Pole weiterentwickeln könnten: einmal, denkbar unwahrscheinlich, das „Weiter so“ von USA, China und der EU in einem System des abgeschwächten Multilateralimus; dann drei weitgehend autonome Blöcke, wo auch die EU wundersamerweise politisch und wirtschaftlich geschlossen auftritt; oder die Welt in einer Dauerkrise, in der die EU im Konflikt zwischen China und den USA zerrieben wird und damit Szenario vier eintritt, in dem nur noch die USA und China als „G2“ die Weltgeschicke bestimmen. Und schließlich die Mehrheitsmeinung: ein „kalter Frieden“, in dem die EU es mit den USA hält, gleichzeitig aber versucht, die Wirtschaftsbeziehungen zu China, so gut es geht, weiter aufrechtzuerhalten.

Tatsächlich fährt die Führung in Peking trotz eines geschätzten Wirtschaftswachstums von 8,5 Prozent einen immer rabiateren Abschottungskurs, um – nach den Handelskonflikten mit Donald Trump und Joe Biden – von den USA technologisch, finanziell und wirtschaftlich möglichst autark zu werden. Auf eingespielte internationale Lieferketten wird dabei keine Rücksicht genommen, gleich ob es sich um Seltene Erden, Metalle, Batterien, Chips, Fahrräder oder Gartenmöbel handelt. Gleichzeitig nimmt Xi die chinesische Wirtschaft wieder hart an die Kandare der KP. Der High-Tech-Milliardär Jack Ma von Alibaba darf „freiwillig“ 15 Milliarden Dollar spenden und 2,4 Milliarden Dollar Steuern nachzahlen. Anderen blüht ähnliches.

Wenn jemand in China jetzt noch Daten horten darf, dann sind es die Partei und der Staat. Xis Industriepolitik setzt wieder voll auf die von KP-Bonzen geführten Staatsbetriebe. Da trifft es sich gut, daß der hochspekulative Immobiliensektor mit Firmen wie Evergrande (JF 40/21) jetzt zugrunde geht. Für die inflationsgeplagten chinesischen Mittelschichtler waren solche Investitionen die einzige Alterssicherung für ihre Spargroschen: Die Börse ist ein getürktes Casino – und Auslandsinvestitionen sind für sie verboten.

„Global Gateway“ als Alternative zur Seidenstraßeninitiative?

Mit der Gleichschaltung der früheren britischen Kronkolonie Hongkong durch das chinesische Sicherheitsgesetz, das den bis 2047 vertraglich zugesicherten Autonomiestatus aushebelte, und den Pseudowahlen vom Frühjahr, bei denen nur handverlesene „Patrioten“ und keine „antichinesischen Unruhestifter“ antreten durften, hat sich die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ erledigt. Die chinesische Führung mißtraut dem Freihandel und setzt ganz altmodisch auf quasikoloniale Einflußsphären. Die Seidenstraßeninitiative sichert mit Kreditvergaben und Knebelverträgen den Zugang zu kritischer Infrastruktur (Häfen, Eisenbahnen, Energieversorger) und Rohstoffquellen in Zentral- und Südasien, in Zentral- und Ostafrika sowie auf dem Balkan. In Kirgisien, Tadschikistan, Kambodscha, Sri Lanka, Pakistan, Dschibuti, Mauritius, dem Kongo, Sambia, Mosambik und Simbabwe, aber auch in Serbien und Montenegro, machen chinesische Staatskredite in Höhe von insgesamt zwei Billionen Dollar schon gut ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.

Die Gelder sind attraktiv, weil sie ohne störende Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen vergeben werden, schaffen aber Abhängigkeiten. Diese machen sich auch in der EU bemerkbar. Griechenland, Ungarn oder Italien blockieren chinakritische Texte. Da in der EU-Außenpolitik Einstimmigkeit herrscht, kann sich Berlin dahinter verstecken: Jedes dritte deutsche Auto wird in China verkauft – das macht erpreßbar. Nachdem vier Verantwortliche der „Umerziehungslager“ für Uiguren und Tibeter auf eine EU-Sanktionsliste gesetzt worden waren, rächte sich Peking mit einer Sanktionsliste von zehn Chinakritikern und vier Institutionen.

In einem EU-Kommissionspapier wurde China vom „strategischen Partner“ zum „Systemrivalen“ umgetauft, der andere Werte vertrete und weltweit exportiere. Der Katalane Josep Borrell verkündete als EU-Außenbeauftragter eine neue „Indo-Pazifische Strategie“, bei der man „digitale Partnerschaften“ mit Japan, Südkorea, Singapur, Taiwan und Indien zu Themen wie Klimaschutz, Gesundheit und Migration pflegen will. Doch China erzeugt über die Hälfte des Kohlestroms der Welt und stößt mehr CO2 in die Atmosphäre als alle westlichen Industrieländer zusammen. Und hat nicht Peking, im vollen Wissen um die Gefährlichkeit des Coronavirus und während es Wuhan und andere Städte abriegelte, Anfang 2020 bewußt seine Grenzen und internationalen Flughäfen offen gelassen?

Während die einsame Fregatte „Bayern“ der Bundesmarine im Indopazifik Präsenz zeigen will, bauen die Chinesen gerade ihren vierten Flugzeugträger. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verkündete Programme wie „Global Gateway“ als Gegenentwurf zur chinesischen Seidenstraßeninitiative sowie die „European Alliance for Industrial Processors and Semiconductor Technologies“ zur Sicherung der Halbleiterversorgung. Doch es handelt sich zunächst einmal nur um Slogans ohne Inhalt. Tatsächlich gibt es mit China ein Investitionsschutzabkommen, das EU-Investoren mehr Rechtsschutz geben soll und das seit 2013 verhandelt wurde. Es liegt dem EU-Parlament zur Ratifikation vor. Doch zu Themen wie unabhängigen Gewerkschaften oder dem Verbot von Zwangsarbeit gibt es nur vage chinesische Zusagen. Und weil China die Europaabgeordneten Michael Gahler (CDU) und Reinhard Bütikofer (Grüne) auf seine Sanktionenliste setzte, dürfte sich die Begeisterung über eine Zustimmung in engen Grenzen halten.

BDI-Studie „Globalisierungsszenarien“: bdi.eu