© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Komplexe Beziehungsgeschichte zwischen „normal“ und „anders“
Tiefgreifender Wertewandel
(ob)

Die Geschichte der Homosexualität in Deutschland, die Michael Schwartz (Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin) im gerafften Überblick über die letzten 100 Jahre präsentiert, ist weit mehr als nur „facettenreich“. Sie offenbare einen höchst „komplexen Verflechtungszusammenhang“, der wiederholte „tiefgreifende Transformationen gesellschaftlicher Werte“ widerspiegle. Dabei verschwimme die Grenze zwischen dem dominierenden „Leitbild hegemonialer heteronormativer Männlichkeit“ und der sie mit „Auflösung“ bedrohenden Homosexualität gerade dort, wo Historiker dies am wenigsten erwarten. So sei nahezu unbekannt, daß in der NS-Zeit, wo ab 1935 eine scharfe Verfolgung einsetzte, der Reichsführer-SS Heinrich Himmler 1937 verfügte, homosexuelle Künstler dürften nur noch mit seiner persönlichen Genehmigung in Haft genommen werden. Und der bisexuelle Film- und Theaterstar Gustaf Gründgens sei nicht der einzige gewesen, der von dieser Regelung profitierte. Es habe „offen zusammenlebende“, geduldete Homosexuelle auch in höheren Parteirängen gegeben, nur seien diese „komplexen Lebenssituationen“ im Dritten Reich bisher „kaum erforscht“. Zu den zahlreichen Ambivalenzen der Beziehungsgeschichte zwischen „normal“ und „anders“ gehöre auch, daß vor allem die katholische Kirche, gegen deren Priester sich nach 1933 zahlreiche „Sittlichkeitsprozesse“ richteten, Anleihen bei der NS-Propaganda machte, um in der Adenauer-Ära als Speerspitze der Homophobie zu agieren. Der Opferstatus habe dabei als „Schutzschild für Sexualstraftäter“ gedient und jahrzehntelang tabuisierten „Mißbrauch“ erleichtert (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3/2021). 


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