© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Schulische Leistung ist kein individuelles Verdienst
Selektion auf dem Weg zum Abitur
(dg)

Aus John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ (1975) ist das unter bundesdeutschen Bildungspolitikern vorherrschende Dogma abgeleitet, daß nur der Schulunterricht die ungleichen natürlichen und sozialen Voraussetzungen von Leistung beseitigen könne. Rawls’ Idee der Chancengleichheit besagt, daß weder die natürliche Begabung noch die soziale Herkunft eines Kindes bestimmen dürfe, welche Position es einmal in der Gesellschaft einnehmen wird. Solche Ungleichheiten, die sich nicht mit unterschiedlichen Leistungen rechtfertigen  ließen, seien „unverdient“ und sollten in der Schule „irgendwie ausgeglichen“ werden. In der Konsequenz läuft diese Theorie für den Ethiker Johannes Giesinger (Universität Zürich) darauf hinaus, jegliche Leistungsungleichheit als ungerecht einzustufen (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 97/2021). Dagegen hätten in jüngster Zeit zwar Bildungstheoretiker wie Christian Nerowski für eine Rehabilitation der Ansicht plädiert, Leistung sei ein individuelles Verdienst. Damit liefere er aber nur eine pädagogische Apologie des gegliederten, selektiven Schulsystems, das soziale Ungleichheit prämiere. Um dies zu verdecken, wende Nerowski seine Überlegungen nicht auf die „Selektionsentscheidungen am Ende der Grundschule“ an, weil er unterstelle, bis zum 14. Lebensjahr werde dort ein „Bildungsminimum“ vermittelt, das allen gleiche Chancen eröffne. Tatsächlich aber erreiche heute ein beträchtlicher Teil der Grundschüler nicht einmal ein minimales Bildungsniveau. Daher sei es auch nicht gerecht, wie Nerowski behaupte, wenn Kinder aus privilegierten Schichten immer noch häufiger bis zum Abitur kämen als ihre sozial benachteiligten Mitschüler. 


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