© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Das verfilmte Wochenblatt
Kuriositätenkabinett: „The French Dispatch“ von Wes Anderson hat zu viele kreative Einfälle für nur einen Film
Dietmar Mehrens

So originell hat wohl noch nie ein Regisseur einen Episodenfilm verpackt. Wes Anderson hat seinem jüngsten Geniestreich nicht nur den Namen eines (fiktiven) Wochenmagazins, „The French Dispatch“ („Die französische Depesche“), gegeben, er hat den Film auch so gestaltet, als wäre er eine Ausgabe davon. 

Pate stand, unschwer zu erkennen, der 1925 von Harold Ross gegründete New Yorker, eine der langlebigsten und populärsten Zeitschriften der Vereinigten Staaten. Ross war ein echter Abenteurer, ein Jack-London-Typ, Gelegenheitsschreiber und Weltenbummler. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich zur Armee und landete in Paris, wo er für die Militärpostille Stars & Stripes tätig wurde. Zurück in New York, bewegte er sich in Boheme-Kreisen. Hier entstand schließlich die Idee zu einem Magazin, das „ein Reflex des großstädtischen Lebens in Wort und Bild“ sein sollte, voller Witz und Satire, „aber mehr als ein Scherzkeks“. 

Hochkarätige Schaupieler haben Kurzauftritte

Regisseur Wes Anderson entdeckte den New Yorker, als er im elften Schuljahr war, und mochte vor allem die darin abgedruckten Kurzgeschichten. Schon in den beiden ersten Kinoerfolgen „Rushmore“ (1998) und „Die Royal Tenenbaums“ (2001) hat der Texaner seine Vorliebe für exzentrische Sonderlinge unter Beweis gestellt. Idealvoraussetzungen für den durch die „Ghostbusters“-Reihe berühmt gewordenen Bill Murray, der in fast jedem Anderson-Film mitwirkte und mithin auch für die Rolle des „French Dispatch“-Herausgebers Arthur Howitzer eine naheliegende Wahl war.

In drei – Zeitungsrubriken nachempfundenen – Geschichten erzählt Anderson von einem inhaftierten Künstler, der Sagenhaftes zustande bringt („Das Beton-Meisterwerk“), von einem französischen Rudi Dutschke, der auch ähnlich endet wie der deutsche SDS-Führer („Korrekturen eines Manifests“), und von einem Entführungsfall, bei dessen Lösung ein Polizeikoch die entscheidende Rolle spielt („Das private Speisezimmer des Polizeichefs“). Eingebettet sind die drei Episoden, die ursprünglich Kurzgeschichten im New Yorker-Stil werden sollten, in eine Rahmenhandlung, in der es um das Vermächtnis von Arthur Howitzer geht, der verfügt hat, daß im Todesfall sein Lebenswerk mit ihm begraben werden soll. Howitzer stammt zwar aus Kansas. Aber wie sein reales Vorbild Harold Ross verschlug es den Pressetitan nach Frankreich, genauer gesagt nach Ennui-sur-Blasé. Der Ort (deutsch: „Ärger-über-Snob“) ist natürlich genauso erfunden wie das Magazin, an dem hier gearbeitet wird und dessen vollständiger Name etwas mehr verrät über seinen Ursprung: „The French Dispatch of the Liberty, Kansas Evening Sun“. Gedreht wurde in der westfranzösischen Kulturstadt Angoulême, berühmt für sein Comic-Festival. Ein bißchen Comic ist auch der Film, der hier entstanden ist.

So endlos wie der Erfindungsreichtum des Regisseurs ist auch die Liste von Schauspiel-Hochkarätern, die sich, zum Teil nur für wenige Minuten kurze Auftritte, engagieren ließen, um beim neuesten Anderson-Coup dabei zu sein: Edward Norton, Willem Dafoe, Owen Wilson und Benicio del Toro sind nur die bekanntesten darunter. Die neue französische Filmdiva Léa Seydoux („Keine Zeit zu sterben“) darf als Aktmodell und Gefängnisaufseherin einmal mehr ihre Vielseitigkeit unter Beweis stellen. Und auch der Österreicher Christoph Waltz, seit seinem Oscar-gekrönten Auftritt in dem Résistance-Drama „Inglourious Basterds“ (2009) eine feste Größe in Hollywood, ist mit von der Partie. 

Mitunter verliert sich Anderson zu sehr in den vielen kreativen Einfällen und skurrilen Details, die nahezu jede Szene seines kunstvollen Kaleidoskops bereichern. Cineasten werden an der zur Schau gestellten überbordenden Kreativität ihre große Freude haben. Ansprechen wird Andersons abwechslungsreiche Kuriositätenparade vor allem ein kunstverständiges akademisches Publikum.

Siebenmal war der Filmemacher bereits für den Oscar nominiert. Bei der nächsten Verleihung Anfang 2022 ist die Trophäe auf jeden Fall wieder in Reichweite. Denn dem 52jährigen ist mit seinem auf die Spitze getriebenen Spiel mit Realität und Fiktion ein fabelhaftes Gesamtkunstwerk gelungen. 

Kinostart ist am 21. Oktober 2021