© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Das Geheimnis der Briefleserin
Vom Innehalten. Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zeigt im Zwinger eine große Vermeer-Ausstellung
Paul Leonhard

Ein Kunstkrimi der besonderen Art steht im Mittelpunkt einer prächtigen Ausstellung der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister, die dem holländischen Genremaler Johannes Vermeer (1632–1675) gewidmet ist: das berühmte „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“. Es ist die nach Museumsangaben größte bisher gezeigte Vermeer-Schau in Deutschland. Zur Eröffnung sprachen die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Der Barockmaler Vermeer gilt als herausragender Künstler der Epoche des Goldenen Zeitalters der Niederlande.  

Das „Brieflesende Mädchen“ ist viel interpretiert worden. Offenbar inspiriert es den Betrachter sehr viel mehr als andere, ähnlich gemalte Gemälde des Künstlers. So das um 1663 entstandene Bild „Briefleserin in Blau“ (Rijksmuseum Amsterdam), die „Junge Dame mit Perlenhalsband“ (1663/65, Staatliche Museen zu Berlin), die Gemälde „Stehende Virginalspielerin“ (um 1670/72, Nationalgalerie London), „Frau mit Waage“ (um 1662, Nationale Kunstgalerie Washington), „Der Geograph“ (1669, Städel-Museum Frankfurt am Main), „Das Mädchen mit dem Weinglas“ (1659/60, Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Braunschweig) oder „Die unterbrochene Musikstunde“ (1660/61, The Frick Collection.

Alle Frauendarstellungen sind ähnlich konzipiert

Sie alle sind, und dazu noch „Die kleine Straße“ aus dem Amsterdamer Rijksmuseum und „Bei der Kupplerin“ aus dem eigenen Bestand, in der Sonderausstellung „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ im Semperbau des Zwingers zu bewundern. All diese Frauendarstellungen sind ähnlich konzipiert: Durch ein Fenster fällt Licht auf die dargestellten Personen, die meist im Linksprofil gemalt sind. Der Hintergrund verliert sich im Dunkel. Alle eint, daß die Figuren „bei einer Tätigkeit innehalten, zur Ruhe kommen, sich besinnen“, so Museumsdirektor Stephan Koja. Und alle wurden nach dem zwischen 1657 bis 1659 gemalten „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“ geschaffen, mit dem, so Koja, der Maler „seinen ganz eigenen Stil gefunden“ habe.

Nach Dresden gelangte das gerade 83 mal 64,5 Zentimeter messende Gemälde 1742 – als Zugabe. Für Friedrich August II. tätige Sammler hatten es in der Sammlung eines französischen Prinzen von Carignan in Paris entdeckt, gekauft und ihrem Auftraggeber ein Konvolut von 30 Bildern angeboten, das „Mädchen“ als Bonus. Der sächsische Kurfürst fand an dem Werk gefallen und nahm es in seine Sammlung auf.

Die Übermalung stammte nicht von Vermeer

Daß der Vermeer da schon von unbekannter Hand übermalt worden war, erfuhr er nie. Die Übermalung selbst wurde erst 1979 bei Röntgenaufnahmen entdeckt, aber damals gingen die Kunst-experten noch davon aus, daß diese von Vermeer selbst vorgenommen worden war. Erst vor vier Jahren wurde bei Restaurierungsarbeiten festgestellt, daß die großflächige Übermalung auf der hinteren Wand des Innenraums nicht von Vermeer stammte, sondern einige Zeit nach seinem Tod ausgeführt worden war. Kurfürst Friedrich August II. konnte sich also nie an der amourösen Bildaussage mit dem nackten Cupido erfreuen. Überdies wurde ihm der Vermeer als Rembrandt verkauft, weil der eigentliche Schöpfer des Bildes „zu der Zeit vollkommen vergessen war“, wie Museumsdirektor Koja sagt.

Überhaupt ist über die künstlerische Ausbildung Vermeers, der sich auch Jan Vermeer van Delft, Joannis von der Meer oder Johannes Reyniersz Vermeer nannte, wenig bekannt. Unklar ist ebenso, ob der Sohn eines Seidenwebers Auftragswerke schuf oder lediglich feste Abnehmer für seine Gemälde besaß. Bis zum Ausbruch des französisch-niederländischen Krieges 1672 verkaufte er viel und teuer, mußte dann aber Kredite aufnehmen und war bei seinem Ableben im Dezember 1675 so hoch verschuldet, daß seine Ehefrau Catharina Bolnes auf das Erbe verzichten mußte. Aktuell werden Vermeer 37 noch existierende Bilder zugeschrieben.

Daß Maler Teilaussagen ihrer Bilder übermalten, war nicht ungewöhnlich. In Vermeers „Schlafendem Mädchen“ (1657) veränderte der Künstler beispielsweise Komposition und Aussage, indem er in der Tür einen Hund und im linken Bildhintergrund einen Mann verschwinden ließ, wie Röntgenaufnahmen ergaben.

Im Fall des Dresdner Gemäldes war aber exakt bewiesen, daß nicht Vermeer das Bild verändert hatte. Deswegen entschieden die Experten, die nicht einmal einen Millimeter dünne Übermalung schrittweise mit einem winzigen Skalpell unter dem Mikroskop abzunehmen. Zum Vorschein kam ein stehender Liebesgott mit Bogen, Pfeilen und zwei Masken, der als „Bild im Bild“ die Rückwand des dargestellten Zimmers ziert. Hieß es ursprünglich von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, daß die „Darstellung des Liebesgottes wohl als Verweis auf den amourösen Kontext der scheinbar unverfänglichen Alltagsszene zu lesen“ sei, die Figur der introvertierten Leserin erfahre „durch das auffällige Hintergrundbild ein Gegengewicht im Raum, das den Inhalt der Szene für den Zuschauer öffnet, es liegt bei ihm, wie er den Brief in des Mädchens Hand deuten wird“, so ist Museumsdirektor Koja davon abgerückt: Der Liebesgott stehe „nicht für das Begehren, sondern für Treue und Wahrhaftigkeit als das Wesen wahrer Liebe“.

Daß Vermeer dieses Motiv mochte, ist bekannt, drei weitere Interieurgemälde von seiner Hand zeigen es. Auch Übermalungen waren im 18. Jahrhundert nicht unüblich. Wer sie aber wann im konkreten Fall ausgeführt hat, dieses Rätsel konnten auch internationale Experten nicht lösen. Viel Neues lernten sie dagegen über die „subtile, kühne Farbigkeit“ Vermeers, die unter dem mehrfach überarbeiteten gelbbraun gewordenen Firnisüberzug aus dem 19. Jahrhundert zum Vorschein kam. Abgesehen von den Bildrändern gilt der Erhaltungszustand des 360 Jahre alten Bildes als hervorragend. Nach der Entfernung weiterer alter Retuschen und Firnisschichten strahlt das Bild wieder in seiner ursprünglichen, überwältigenden Farbigkeit.

Die Dresdner Kuratoren haben ihr neues Kleinod sorgfältig arrangiert, indem sie ihm nicht nur einen edlen Ebenholzrahmen spendeten, sondern (mögliche) Requisiten aus dem Atelier des Malers um es herum plazierten: Stiche, ein Emblembuch, die Skulptur eines Cupido, einen antiken  Teppich, einen spanischen Stuhl, einen chinesischen Teller, das Oberteil eines Frauenkleides.

Neben zehn Bildern Vermeers zeigt die Dresdner Schau weitere 50 Bilder aus der holländischen Malerei des Goldenen Zeitalters, Fein- und Genremaler von allerhöchster Qualität aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, darunter Hauptwerke von Pieter de Hooch, Gerard Dou, Frans van Mieris und Gerard ter Borch. Die Ausstellung ist in mehrere Bereiche gegliedert, in deren Zentrum jeweils eines der Gemälde Vermeers steht. In ersten wird das Umfeld des Künstlers in Delft vorgestellt. Anschließend wandelt der Besucher durch Räume mit den Überschriften „Auf dem Weg zum Genie“, „Spiegelungen der Seele“, „Wirklichkeit und Täuschung“, „Vom Stillstehen der Zeit“, „Die Sprache der Liebe“ und „Botschaften des Herzens“ zum „Brieflesenden Mädchen am offenem Fenster“ als Finale. Ein Dokumentations- und ein Filmraum befassen sich ausführlich mit der Restaurierung selbst und den innerhalb des Forschungsprojektes vorgenommenen naturwissenschaftlichen Untersuchungen.

Die Ausstellung „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ ist bis zum 2. Januar 2022 im Dresdner Zwinger, Theaterplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 20 Uhr, Sa./So. ab 8 Uhr, zu sehen. Der Eintritt kostet 12 Euro, ermäßigt 9 Euro. Telefon: 03 51 / 49 14 20 00

Der Katalog mit 256 Seiten und etwa 300 meist farbigen Abbildungen kostet 48 Euro.  www.skd.museum