© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

„Förderer und Verführer“
Nach erneuten Vorwürfen: Springer entläßt „Bild“-Chef Julian Reichelt
Gil Barkei

Es ist ein Paukenschlag in Berlin, der in der ganzen Republik für Aufmerksamkeit sorgt. Am Montag hat die Axel Springer SE den bisherigen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden. „Als Folge von Presserecherchen hatte das Unternehmen in den letzten Tagen neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen. Diesen Informationen ist das Unternehmen nachgegangen“, hieß es in einer Stellungnahme des Verlages. „Dabei hat der Vorstand erfahren, daß Julian Reichelt auch nach Abschluß des Compliance-Verfahrens im Frühjahr 2021 Privates und Berufliches nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt hat.“ Springer betont, daß es dabei nicht um „den Vorwurf sexueller Belästigung oder sexueller Übergriffe“ gehe, aber um „den Vorwurf einvernehmlicher Liebesbeziehungen zu Bild-Mitarbeiterinnen und Hinweise auf Machtmißbrauch in diesem Zusammenhang“. Umstritten sei, ob eine Mitarbeiterin, zu der „eine frühere Beziehung“ bewiesen werden konnte, „dadurch berufliche Vorteile“ genossen habe. Vorstandschef Mathias Döpfner zeigte sich gewohnt rigoros und freundlich zugleich: „Julian Reichelt hat Bild journalistisch hervorragend entwickelt und mit Bild Live die Marke zukunftsfähig gemacht. Wir hätten den mit der Redaktion und dem Verlag eingeschlagenen Weg der kulturellen Erneuerung bei Bild gemeinsam mit Julian Reichelt gerne fortgesetzt. Dies ist nun nicht mehr möglich.“

Dem Abschuß Reichelts war ein skurriler Streit beim Konkurrenten Ippen vorausgegangen. Im vorigen Jahr war BuzzFeed Deutschland samt dem Investigativ-Team im Redaktionsnetzwerk Ippen Digital aufgegangen. Vergangenes Wochenende verhinderte Verleger Dirk Ippen plötzlich persönlich kritische Berichte seiner Ippen-Investigativ-Abteilung über erneute Verfehlungen von Bild-Chef Julian Reichelt und weitere Mißstände bei Springer. Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier machte dies als erster publik und verwies auf eine Erklärung der Ippen-Mediengruppe, zu der unter anderem anteilig oder vollständig der Münchner Merkur und die Frankfurter Rundschau gehören. Demnach sollte der Anschein vermieden werden, „eine publizistische Veröffentlichung mit dem wirtschaftlichen Interesse zu verbinden, dem Wettbewerber zu schaden“. Brisant: In der Ippen-Druckerei wird ein Teil der Bild-Auflage gedruckt.

Recherchen landeten bei der „New York Times“

Daß Niggemeiers Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen waren, zeigte kurz darauf ein durchgesickerter Protestbrief des Investigativ-Teams an die eigene Geschäftsführung. Man sei „schockiert“ und „enttäuscht“ über die Entscheidung, die einen „Vertrauensbruch in der Zusammenarbeit“ darstelle. „Besonders irritiert“ seien die Journalisten darüber, daß für „den Stopp der Recherche keine juristischen oder redaktionellen Gründe angeführt wurden“. Ein Eingriff „nach Gutsherrenart“, kritisierte auch DJV-Chef Frank Überall. Die Frankfurter Rundschau stellte sich demonstrativ hinter das vierköpfige Investigativ-Team.

Hinweise auf „Anrufe der Springer-Verantwortlichen bei der Ippen-Mediengruppe“ wiesen beide Verlage zurück. Doch damit sollte die Sache nicht ausgestanden sein, denn in der New York Times erschien wenig später ein Artikel von Ben Smith – „zufällig“ früherer BuzzFeed News-Chefredakteur – über „Allegations of Sex, Lies and a Secret“. Die Personalie Reichelt und dessen Eskapaden hatten die USA erreicht, ausgerechnet den Markt, den Springer mit seinem Kauf des US-Newsportals Politico groß erschließen möchte. Die globalen Expansionsambitionen des deutschen Medienriesen unter der Führung Döpfners haben das Interesse der Konkurrenz in den Vereinigten Staaten geweckt. Im Raum stehender Machtmißbrauch kann im Heimatland von #MeToo allerdings schnell Milliarden kosten, das wird auch den Springer-Vorstand nachdenklich gestimmt haben.

„So läuft das immer bei Bild, wer mit dem Chef schläft, bekommt einen besseren Job“, zitiert Smith die Aussage einer Mitarbeiterin, die beim Compli­ance-Verfahren und der zweiwöchigen Freistellung Reichelts im März (JF 14/21) von der intern eingesetzten Wirtschaftskanzlei Freshfields befragt wurde. Mehrere dieser internen Informationen scheinen das linkslastige Ippen-Investigativ-Team und die alten BuzzFeed-Verbindungen erreicht zu haben. Springer kündigte „rechtliche Schritte gegen Dritte“ an, die versucht hätten, die Compliance-Untersuchung „mit rechtswidrigen Mitteln zu beeinflussen und zu instrumentalisieren, offenbar mit dem Ziel, Julian Reichelt aus dem Amt zu entfernen und Bild sowie Axel Springer zu schädigen“. Kein Geheimnis ist außerdem, daß Reichelts Prestigeprojekt Bild TV zahlreichen deutschen Medienhäusern und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ein Dorn im Auge ist und sie seit Wochen gegen den lauten und oftmals regierungskritischen Nachrichtensender gewettert haben.

Kurz nach der New York Times publizierte auch der Spiegel, der bereits im Frühjahr die Springer-Ermittlungen gegen Reichelt öffentlich gemacht hatte und daraufhin im Rechtsstreit mit ihm lag, einen Text, warum der einstige Diekmann-Zögling nach der vorübergehenden Rehabilitierung gehen mußte. Demnach habe der 41jährige „eine weitere sexuelle Beziehung“ zu einer ihm Unterstellten geführt und diese nach dem Verfahren weder beendet noch dazu in den Untersuchungen die Wahrheit gesagt. Er soll außerdem die Frau dazu gedrängt haben, ihren Nachrichtenverlauf zu löschen und gegenüber einer Anwältin besser nichts zu sagen.

Insgesamt sei das Arbeitsklima bei der Boulevardzeitung durch ein Machtgefälle zwischen Männern und Frauen gekennzeichnet. „It’s a man’s world“, zitiert der Spiegel eine langjährige Führungskraft. Frauen würden in der Berichterstattung wie intern nach ihrer „Fuckability“ beurteilt. „Reichelt war für den weiblichen Nachwuchs Förderer und Verführer zugleich“, schreibt das Hamburger Nachrichtenmagazin und bezieht sich auf Redaktionskreise. Neue Volontärinnen seien mit „Vorsicht, das ist eine von Julian“ angekündigt worden, besonders im Politik- und Showressort habe Reichelt „gewildert“.

Nachfolger wird Johannes Boie

Dem Flurfunk aus dem Axel-Springer-Verlag ist zu entnehmen, Reichelt habe nicht nur weiterhin Verhältnisse mit jungen Kolleginnen gehabt, sondern auch seinen oftmals kritisierten aggressiven Umgangston beibehalten. Zudem sei man haus­intern unzufrieden mit den Zahlen von Bild TV gewesen – einige Beobachter sahen in dem Aufbau des Kanals einen Grund für die lange Zeit schützende Hand über Reichelt. Doch in den Wochen nach dem Programmstart am 22. August sank der Marktanteil im Schnitt auf 0,1 Prozent, selbst der andere Springer-Sender Welt kam in der Zeit auf 0,9 Prozent. 

Auf die Nachfolger warten also nicht nur Herausforderungen bei der Unternehmenskultur. Neuer Vorsitzender der dreiköpfigen Chefredaktion wird nun Johannes Boie, der bisher Chefredakteur der Welt am Sonntag war. Der 37jährige hatte, bevor er 2017 zu Axel Springer kam, als Reporter und Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung gearbeitet und dort die Bezahlangebote entwickelt. Alexandra Würzbach, die Reichelt vor einem halben Jahr an die Seite gestellt wurde, bleibt Chefredakteurin der Bild am Sonntag und leitet das Personal- und Redaktionsmanagement. Claus Strunz verantwortet als Chefredakteur das Bewegtbildangebot.