© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Chamäleokratie oder Die wundersame Verwandlung des Demokraten in der Wahlkabine
Demokratie braucht Präsenz
Gernot Hüttig

Es ist zum Verzweifeln: Kommen wir mit anderen Bürgern, die nicht unserer eigenen Echokammer entstammen, ins Gespräch über die existentiellen politischen Fragen der Zeit, so werden wir uns oft schnell einig und sind dann überzeugt: die eigenen Auffassungen sind keine Bückware. Um so größer ist die Enttäuschung, wenn die Übereinstimmung bei Wahlen nicht zum Tragen kommt, sondern 80 oder 90 Prozent der Wähler Parteien vertrauen, die die existentiellen Fragen anders beantworten. Wir führen dies dann schnell darauf zurück, daß diese Fragen unter den Teppich gekehrt und unterschiedliche Antworten nicht erst zur Abstimmung gestellt werden. Indessen keimt der Verdacht, daß die Ursache tiefer liegt und im System angelegt ist.

Der deutschen Sprache, in der man Heidegger zufolge so trefflich philosophieren kann, lassen sich auch Schwächen nachsagen, bezeichnenderweise auf dem Feld des Politischen. So unterscheidet das deutsche Wort „Bürger“ anders als die französische Sprache, die eines politisch gewitzteren Volkes, nicht zwischen „bourgeois“ und „citoyen“ und damit nicht zwischen der unpolitischen und der politischen Existenzform des einzelnen. Die deutsche Sprache hält neben dem allgemeinen Wort „Bürger“ nur vernebelnde Worte wie „Staatsbürger“ und „Privatmann“ bereit, weshalb der Leser um Nachsicht gebeten wird, wenn im folgenden die französischen Worte vorgezogen werden.

Der „bourgeois“ ist der Privatmann, dessen Sorge dem Besitz und Erwerb zugewandt ist. Der Staat als Träger der Politik interessiert ihn nur insoweit, als er den Besitz und Erwerb schützt und sich insoweit auf die Rolle eines Nachtwächters beschränkt. Im übrigen gilt ihm der Staat als Bedrohung, gegen die er sich abzusichern sucht, indem er den Staat entmächtigt. Der „citoyen“, der „Staatsbürger“, hingegen verhält sich als Teil der Nation, nämlich des Volkes als politisch-aktionsfähiger Einheit in Gestalt des Staates. Im „Bürger“ stecken sowohl der „citoyen“ als auch der „bourgeois“.

Fragt man nach den dahinterstehenden Ideologien, so stößt man im Fall des „bourgeois“ auf den Liberalismus, im Fall des „citoyen“ auf die Demokratie. Liberalismus will heißen: Der einzelne ist ursprünglich und der Staat sein vertragliches Produkt mit der Folge, daß die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt ist, die Befugnis des Staates zu Eingriffen hingegen prinzipiell begrenzt. Woraus dann weiter folgt, daß die Befugnis des Staates zu Eingriffen durch ein System der Grund- und Freiheitsrechte sowie die organisatorische Teilung der Staatgewalt einzuhegen ist.

Klar, daß dieses unpolitische Verständnis des Verhältnisses von einzelnem und Staat einem bestimmten Bevölkerungsteil in einer bestimmten Epoche entgegenkam, nämlich dem aufsteigenden, vom absoluten Staat eingeengten und sich deshalb von ihm zu emanzipieren suchenden Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. Es leuchtet auch ein, daß es sich um ein epochenbedingtes und ausschließlich europäisches Verständnis handelt, dessen weltweite Durchsetzung nicht zu erwarten ist.

Demokratie ist hingegen etwas ganz anderes, nämlich keine staatsfeindliche Ideologie eines nur am Wirtschaftlichen interessierten Bevölkerungsteils, sondern eine politische Organisationsform des ganzen Volkes. Die nicht auf der Präsenz des Volkes, sondern auf dessen Repräsentation beruhende Monarchie ist die andere denkbare Organisationsform. Demokratie und Monarchie bilden dabei nur die äußersten Pole. In der Wirklichkeit finden wir nämlich nur Mischformen, in denen das eine oder andere Formprinzip mehr oder weniger überwiegt. Die Demokratie beruht auf der Gleichheit: Regierende und Regierte sind identisch. Um sich selbst zu regieren, müßte das Volk allerdings zu politischen Entscheidungen und Handlungen fähig sein.

Das ist idealerweise nur gewährleistet, wenn das Volk präsent ist, also in der Versammlung, und auch insoweit nur, als es zu fundamentalen Fragen seiner politischen Existenz „Ja“ oder „Nein“ sagen kann. Da das Volk in seiner Gesamtheit nie und selbst in Teilen nicht dauerhaft, sondern, wie zum Beispiel bei Demonstrationen, nur kurzzeitig zusammenkommt und auch differenzierte Antworten vonnöten sind, die das versammelte Volk nicht geben kann, bedarf es einer vom Volk unterschiedenen Regierung. Nur ist in der demokratisch verfaßten Regierungsordnung der Regierende nicht etwas qualitativ Besseres als das Volk, sondern dessen gleichartiger Beauftragter.

Die Bestimmung der Personen, die diese Funktion in der Demokratie ausüben, geschieht durch Wahlen, und zwar nicht durch Wahlen in aller Öffentlichkeit per Akklamation, sondern in geheimer Einzelabstimmung. Und hier liegt ein Problem, das kaum gesehen wird, weil sich die geheime Einzelabstimmung weltweit als Wahlmodus etabliert hat. Daß es nicht gesehen wird, gehört zum Arcanum moderner Herrschaft. Carl Schmitt hat das Problem schon vor einem Jahrhundert in seiner berühmten „Verfassungslehre“ so beschrieben:

„Die Methode der geheimen Einzelabstimmung ist aber nicht demokratisch, sondern Ausdruck des liberalen Individualismus. Denn die konsequente Durchführung der geheimen Einzelwahl und Einzelabstimmung verwandelt den Staatsbürger, den citoyen, also die spezifisch demokratische, das heißt politische Figur, in einen Privatmann, der aus der Sphäre des Privaten heraus – mag dieses Private nun seine Religion oder sein ökonomisches Interesse oder beides in einem sein – eine Privatmeinung äußert und seine Stimme abgibt. Geheime Einzelabstimmung bedeutet, daß der abstimmende Staatsbürger im entscheidenden Augenblick isoliert wird. Die Versammlung des anwesenden Volkes und jede Akklamation ist auf diese Weise unmöglich geworden, die Verbindung von versammeltem Volk und Abstimmung völlig zerrissen. Das Volk wählt und stimmt nicht mehr als Volk.“

Mit anderen Worten: Der abstimmende Bürger ist aus seiner politischen Verantwortung gegenüber den anderen Volksangehörigen herausgerissen und hat deshalb in der Kabine und noch mehr bei der Briefwahl vorrangig seine privaten Interessen im Auge. Wenn Schmitt insoweit von Religion spricht, wird man heute besser an moralische Sentiments denken. So werden vor dem Auge des Wählers, geht es zum Beispiel um die Immigration, die Bilder greinender Kinder auftauchen, die ihm abendlich das Fernsehen vorführt. Im Bestreben, sich moralisch wohlzufühlen (früher sagte man: um seine Seele zu retten), wird er dann bei der Stimmabgabe sein auf das individuelle Heil zielendes Gewissen ruhigstellen, indem er eine Partei wählt, die, wie er es von den Medienpriestern gehört hat, „das Gute“ will, nämlich die Immigration fördert. Und kein Rentner muß in der Kabine und schon gar nicht zu Hause die an den Gemeinnutz appellierende Frage gewärtigen, ob die Rentenerhöhung nicht die Erhöhung des Kindergeldes verhindert.

Lange vor Schmitt hatte Jean-Jacques Rousseau zwischen der „volonté générale“ und der „volonté des tous“ unterschieden. Der erstere Begriff läßt sich mit „Gemeinschaftswille“ übersetzen, der letztere mit „Summe der Willen der isolierten einzelnen“. In der „volonté générale“ ist die Staatsfremdheit ebenso überwunden wie die Ichfremdheit des Staates, beider Bewußtsein und beider Wille werden eins.

Darzulegen, daß die Summe der Willen der isolierten einzelnen keineswegs mit dem Gemeinschaftswillen identisch ist, darauf kam es Rousseau an. Wird zum Beispiel der (monarchische oder demokratische) Staat bedroht, so fordert die auf das Gesamtwohl gerichtete „volonté générale“ von dem einzelnen, daß er seinen Kopf hinhält, während die „volonté des tous“ dem einzelnen nahelegt, seinem individuellen Interesse an seiner persönlichen Sicherheit den Vorrang zu geben, indem er desertiert. Wie es um die Verteidigung des Landes bestellt wäre, würde darüber in geheimer Wahl in der Kabine oder zu Hause im Sessel abgestimmt, ist leicht zu erraten. Kein Zweifel: Der Wille des „citoyen“ ist die „volonté générale“, der Wille des „bourgeois“ hingegen die „volonté des tous“.

Nach allem versteht sich, daß die durch die Pandemie­furcht aufgewertete Briefwahl die Kabinenwahl in ihrer undemokratischen Natur sogar noch übertrifft. Diese Wirkung wird kaum wahrgenommen. Daß die Behinderung und Unterbindung von Demonstrationen dem demokratischen Prinzip auf das entschiedenste zuwiderläuft, ist demgegenüber offensichtlich.

Wenn wir diese beiden Pandemiemaßnahmen – Aufwertung der Briefwahl und Unterbindung von Versammlungen – auf einen gemeinsamen Nenner bringen, so ist es die bewirkte Vereinzelung der Bürger. Wir erkennen dann auch andere pandemiebedingte Formen der Vereinzelung, vom Homeoffice bis zur Unterlassung des Handschlags, als politisch relevante und deshalb von den Herrschenden geförderte Veränderungen, weil die Vereinzelung den Gemeinschaftswillen austreibt und nur den „bourgeois“ übrigläßt.

Damit berühren wir einen Aspekt, den Schmitt und erst recht Rousseau noch gar nicht im Visier hatten: den Einfluß der Medien. Schmitt kannte, als er die „Verfassungslehre“ schrieb, nur die Printmedien. Deren Einfluß war gering, verglichen mit dem der auch die Emotion erreichenden visuellen Medien. Wenn sich Millionen einzelne, denen sich andere Erkenntnisquellen zunehmend verschließen, allabendlich durch das Fernsehen die Welt erklären lassen, so trägt dies bei der Wahl Früchte.

Der Leser wird sich fragen, ob der „bourgeois“, der dem absoluten Monarchen in den Arm fiel, mit dem heute wählenden „bourgeois“ zu vergleichen ist. Tatsächlich finden sich neben Ähnlichkeiten auch Unterschiede. Ähnlich ist die Ausgangslage. Der monarchischen Allmacht, das heißt der Vereinigung aller drei Staatsgewalten in der Hand des Monarchen (nichts anderes besagt der Begriff des Absolutismus), steht heute die ebenfalls alle drei Gewalten des Staates umschlingende Allmacht der Parteien gegenüber, die sich den Staat zur Beute gemacht haben und sich auch untereinander keine Konkurrenz mehr machen, indem sie ein Kartell gebildet haben.

Allerdings war der dem Monarchen gegenüberstehende „bourgeois“ ein den Monarchen bedrohender Faktor, weil er als Besitz- und Bildungsbürger im Staat eine wachsende Rolle spielte. Insofern mußte der Monarch ihn fürchten, obgleich der „bourgeois“ es nicht auf eine eigene Teilhabe an der Macht abgesehen hatte, sondern nur auf die Beschränkung der monarchischen Macht.

Der heute wählende „bourgeois“ hat es ebensowenig wie sein Vorgänger auf die Teilhabe an der Macht abgesehen. Aber, und hierin liegt der Unterschied, der wählende „bourgeois“ erstrebt nicht einmal die Beschränkung der Macht des absolutistischen Parteienkartells, er bemerkt diese Macht erst gar nicht. Die Wähler bilden eben keine aufstrebende, durch ein wirtschaftliches Interesse verbundene Schicht, sondern eine formlose, mediengelenkte Masse.

Um zum Schluß auf die eingangs geschilderte Beobachtung zurückzukommen: Unser politisches Gespräch mit unseren Mitbürgern darf als die Urform der Volksversammlung gelten und fördert gerade deshalb verantwortungsbasierte politische Urteile zutage. Dennoch vereitelt die chamäleonhafte Doppelnatur des „Bürgers“ alle Hoffnung, daß sich hierdurch an den Wahlergebnissen etwas ändern wird. Der „citoyen“, mit dem wir unter vier Augen so vernünftig haben sprechen können, verwandelt sich beim Ausfüllen des Wahlzettels wie durch einen bösen Zauber in den „bourgeois“.






Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, arbeitete seit 1970 als Jurist und seit 1983 als Behördenleiter.

Foto: Abstand voneinander: Pandemiemaßnahmen wie die Aufwertung der Briefwahl und die Unterbindung von Versammlungen bewirken die Vereinzelung der Bürger und treiben den Gemeinschaftswillen aus