© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Im Fadenkreuz der Weltpolitik
Vor fünfzig Jahren übernahm die Volksrepublik China von Taiwan den Sitz in der Uno
Peter Kuntze

Wohl keiner der Zeitgenossen hätte geglaubt, der 25. Oktober 1971 könnte einmal als welthistorisches Datum gelten. Doch in der Tat wurden vor nunmehr fünfzig Jahren die Weichen für eine Konstellation gestellt, die heute das Schlimmste befürchten läßt: eine militärische Auseinandersetzung zwischen China und den USA. Ursache war und ist die jahrzehntelange Einmischung Washingtons in den chinesischen Bürgerkrieg, der, obwohl 1949 politisch und militärisch längst entschieden, kein formelles Ende finden konnte.

Während die Kommunisten damals ganz Festlandchina unter ihre Kontrolle brachten und Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 in Peking die Gründung der Volksrepublik proklamierte, retteten sich die geschlagenen Truppen der Nationalisten auf die 120 Kilometer von der Küste entfernte Insel Taiwan. Generalissimus Tschiang Kai-schek erklärte die Inselhauptstadt Taipeh zum provisorischen Regierungssitz der weiter bestehenden Republik China – in der Hoffnung, eines Tages mit US-amerikanischer Unterstützung das Festland zurückzuerobern.

Bis 1970 blockierten die USA die Aufnahme der Volksrepublik in die Vereinten Nationen, so daß die Frage, ob die Vertretung Chinas durch das Exilregime auf Taiwan rechtmäßig sei, offenblieb. In einer Resolution vom 14. Dezember 1950 hatte sich die Uno-Vollversammlung das Recht auf Entscheidung vorbehalten, wenn es über die Repräsentation eines Mitgliedstaates – im Unterschied zur Aufnahme eines neuen Mitgliedstaates – zur Kontroverse kommen sollte. Seitdem wurde über die Frage der Vertretung Chinas jedes Jahr (eine Ausnahme gab es nur 1964) in der Vollversammlung abgestimmt.

Alle auf die Ersetzung Taipehs durch Peking abzielenden Versuche konnten die USA und ihre Verbündeten mit einem Verfahrensantrag bis 1960 verhindern. 1961 jedoch, angesichts der ständigen Stimmenzunahme für Peking und des Zustroms neuer Mitgliedstaaten aus der Dritten Welt zur Uno, wandten die USA eine neue Taktik an. Jetzt wollten sie nicht mehr verhindern, daß der vornehmlich von Albanien eingebrachte Antrag auf Aufnahme der Volksrepublik auf die Tagesordnung gesetzt wird, sondern sie zielten darauf ab, den Streit um die Repräsentation Chinas durch einen Prozedurantrag zu einer „wichtigen Frage“ zu erheben, wodurch eine Zweidrittelmehrheit gemäß Artikel 18 der Uno-Satzung erforderlich wurde.

Diese Taktik bewährte sich bis 1970, obwohl in jenem Jahr erstmals mit 51 zu 49 Stimmen eine einfache Mehrheit für Peking zustande kam. In der Folgezeit wollten die USA nicht mehr die Aufnahme der Volksrepublik blockieren, jedoch den Ausschluß Nationalchinas verhindern. Bereits im Juli 1971 hatte Albanien mit siebzehn anderen Staaten die Resolution Nr. 2758 für die 26. Sitzungsperiode eingebracht. Die entscheidende Textpassage lautete: „Die Vollversammlung der Vereinten Nationen (...) beschließt die Wiedereinsetzung der Volksrepublik China in alle ihre Rechte und die Anerkennung der Vertreter ihrer Regierung als die einzigen legitimierten Vertreter Chinas in der Uno und fordert zugleich den sofortigen Ausschluß der Vertreter Tschiang Kai-scheks aus den Sitzen, die sie in den Vereinten Nationen und allen ihr unterstehenden Organisationen zu Unrecht eingenommen haben.“

Peking will „Wiedervereinigung“ notfalls gewaltsam durchsetzen

Am 25. Oktober wurde diese Resolution mit der erforderlichen Mehrheit von 76 Ja-Stimmen bei 35 Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen angenommen. Mit diesem eindeutigen Votum hatte selbst Peking nicht gerechnet – Mao sprach von einem „unerwarteten Triumph“. Hauptargument der Gegner war der Hinweis auf die Uno-Charta, die den Ausschluß eines Mitglieds nur bei grober Verletzung eben jener Charta vorsieht. Doch diese Argumentation ging am Kern der China-Frage vorbei: Sie war kein juristisches, sondern ein politisches Problem, denn es handelte sich nicht um die Aufnahme eines neuen Staates und den Ausschluß eines anderen, sondern – auch nach nationalchinesischer Auffassung – ausschließlich um die Frage der Repräsentation eines einzigen chinesischen Staates, zu dem die Inselprovinz Taiwan als integraler Bestandteil gehört.

Peking zufolge, und dieser Argumentation haben sich bis heute nahezu alle Staaten angeschlossen, ist die Volksrepublik der einzig legitime Rechtsnachfolger der Republik China. Unter diesem Namen firmiert Taiwan allerdings bis heute, obwohl die Herrschaft Tschiang Kai-scheks, der 1975 starb, mit dem Tod seines Sohnes Tschiang Tsching-kuo 1988 ihr definitives Ende fand. Gegenwärtig regieren in Taipeh Politiker, die die Insel am liebsten als „Republik Taiwan“ in die Unabhängigkeit führen würden – für Peking erklärtermaßen der Casus belli.

Für die USA war das damalige Uno-Votum die bislang schwerste diplomatische Niederlage. Schon fünf Monate später zog Richard Nixon die Konsequenz und besuchte als erster US-Präsident in Peking den Erzfeind von gestern. Im Schanghaier Communiqué vom 27. Februar 1972 bestätigten die USA, daß Taiwan wie Tibet ein integraler Bestandteil Chinas sei, und verpflichteten sich zur Nichteinmischung in dessen innere Angelegenheiten. 1979 tauschten beide Staaten Botschafter aus. Washington brach offiziell die Beziehungen zur Republik China ab, kündigte den Verteidigungspakt mit Tschiangs Regime und erkannte die Regierung der Volksrepublik als die einzig rechtmäßige ganz Chinas an (JF 17/20). Allerdings verabschiedete der US-Kongreß bereits am 10. April 1979 den Taiwan Relations Act, der Washington bis heute jede Handhabe gibt, sich für die Insel auch weiterhin militärisch einzusetzen.

Diesem Gesetz zufolge betrachten die USA „jegliche Maßnahme, die Zukunft Taiwans anders als durch friedliche Methoden zu bestimmen, einschließlich Boykotten und Embargos, als Bedrohung für den westpazifischen Raum und als sehr besorgniserregend für die Vereinigten Staaten“. Ferner fordert das Gesetz von der US-Regierung, „Taiwan mit Waffen defensiven Charakters zu versorgen“ und „die Fähigkeit der USA aufrechtzuerhalten, jedem Rückgriff auf Gewalt oder andere Arten von Nötigung zu widerstehen, die die Sicherheit oder das soziale oder wirtschaftliche System der Einwohner von Taiwan gefährden würden“. Peking bestreitet die Rechtmäßigkeit des Taiwan Relations Act, denn er sei eine „unbefugte Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten“ und widerspreche dem Schanghaier Communiqué.

Während die Volksrepublik bis zum 1. Oktober 2049, dem hundertsten Jahrestag ihrer Gründung, die Wiedervereinigung mit der „abtrünnigen Provinz“ notfalls auch mit Gewalt anstrebt, schmieden die USA Bündnisse, um im Indopazifik dem aufstrebenden China Paroli zu bieten. Im weltpolitischen Machtkampf stehen die Zeichen der Zeit somit einmal mehr auf Sturm.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda 2014)

Foto: US-Präsident Richard Nixon trifft während seines Pekingbesuchs im Februar 1972 den chinesischen Staat- und Parteichef Mao Tse-tung: Für die USA war das Uno-Votum zugunsten der Volksrepublik die bislang schwerste diplomatische Niederlage