© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Wie ein Grippevirus 1918/19 weltpolitisch Regie führte
Kleinste Ursache, größte Wirkung
(dg)

Die Corona-Pandemie ist noch gar nicht vorbei, setzt aber in der Geschichtswissenschaft schon Akzente. Nicht nur dadurch, daß seit 2020 Arbeiten zur Seuchengeschichte die Fachzeitschriften regelrecht überschwemmen. Das „chinesische Virus“ (Donald Trump) hat auch die seit langem zu beobachtende disziplinäre Tendenz fort von der klassischen Politik- und Diplomatie-, hin zur Kultur-, zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte, zur „Geschichte der Körper und Gefühle“, weiter verstärkt. Zu welchen verblüffend neuen Wahrnehmungen dies führen kann, demonstriert ein essayistisches Kabinettstück des britischen Sozialanthropologen Alex de Waal im Rückblick auf die Spanische Grippe von 1918/19 (Lettre International, 134/2021). Demnach hätte Erich Ludendorffs letzte Offensive im Frühjahr 1918 nach Paris führen können, wenn nicht just im Juni 135.000 und im Juli 374.000 deutsche Soldaten durch das Grippevirus ausgeschaltet worden wären. Mit ähnlich fatalen Folgen habe das Virus 1919 auf der Versailler Friedenskonferenz in die deutsche Geschichte eingegriffen: Eine Grippe habe den US-Präsidenten Woodrow Wilson derart geschwächt, daß er in der entscheidenden Verhandlungsrunde sein Prinzip „Frieden ohne Sieg“ fallenließ und sich jenem Anspruch auf gnadenlose „Revanche“ Clemenceaus beugte. 


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