© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

„Niemals werde ich abdanken“
Kaiser Karl I.: Vor 100 Jahren kämpfte der Habsburger um die Rückkehr auf Ungarns Thron
ZIta Tipold

Mit traurigen und abgeklärten Zügen blickt Kaiser Karl I. aus dem Zugfenster des stehenden Waggons an einer Bahnstation nahe Budapest, als er einsehen muß, daß er den ungarischen Thron endgültig verloren hat. Draußen prasselt der Kugelhagel. Einige seiner Männer leisten an diesem 23. Oktober 1921 noch Gegenwehr, andere haben sich angesichts ihrer aussichtlosen Situation bereits den Truppen des Reichsverwesers Miklós Horthy ergeben. Mit den Worten „Ich verbiete jeden weiteren Kampf! Es ist sinnlos geworden“, gibt der Habsburger sich nach drei Jahren des Ringens um sein monarchisches Amt geschlagen. 

Von Horthys Männern eingekesselt, hatte Karl eben noch dessen Kapitulationsbedingungen studiert. Darin unter anderem die Aufforderung, schriftlich abzudanken. Sein Versuch, auf den ungarischen Thron zurückzukehren, begann vielversprechend, hatte er seinen ehemaligen Vertrauten mit dem Manöver doch völlig überrascht. Auf die Unterstützung des ehemaligen Admirals konnte er gewiß nicht zählen. Dieser war nicht nur längst von der Großen und Kleinen Entente als Alternative zur Restauration akzeptiert worden, sondern hatte laut dem Historiker Heinz Rieder „von der Macht berauscht und korrumpiert“ auch mit Karl gebrochen. 

Dennoch hatte der Habsburger den Versuch gewagt und sich am 20. Oktober nach Ödenburg (ungarisch Sopron) begeben, wo er mehrere Minister ernannte. Die Stadt, über deren staatliche Zugehörigkeit zu diesem Zeitpunkt noch gestritten wurde, brachte den Vorteil, daß sie nicht unter direkter ungarischer Kontrolle stand. 

Reichsverweser Horthy blockierte Restaurationsversuche 

Später argumentierte die Regierung in Budapest mit diesem Ereignis dafür, die Oberhand über die Stadt zu erhalten. Österreich hatte Ödenburg eigentlich als Hauptstadt des Bundesstaats Burgenland beansprucht. Eine Volksabstimmung im Dezember 1921 bestimmte schließlich aber, daß Sopron ungarisch bleiben sollte. Fortan markierte die Stadt auch eine neue Grenzlinie zwischen den beiden Staaten, die bis dahin die Leitha gewesen war. Mit einem improvisierten Hofzug machte sich Karl schließlich auf den Weg nach Budapest. Als Horthy davon erfuhr, appellierte er eindringlich an ihn, das Vorhaben abzublasen, wenn er nicht wolle, daß die Truppen der Entente in Ungarn einmarschierten.  

Lange war Karl dem Glauben verfallen, mit Horthy einen loyalen Stellvertreter in Ungarn zu haben, hatte dieser ihm doch kurz vor dem Zusammenbruch des k.u.k.-Reichs die Treue geschworen und versichert, ihm wieder auf den Thron zu verhelfen. Dies sollte sich bereits bei einem ersten Restaurationsversuch im April 1921 als Irrtum herausstellen. Inkognito war der Monarch damals nach Ungarn zurückkehrt, um von Horthy – auf dessen Treueeid pochend – die Machtübergabe zu verlangen. Mit der Begründung, jeder gewaltsame und abrupte Regierungswechsel bedrohe die Existenz des Staates, verweigerte dieser jedoch den Befehl. Dennoch hielt der abgesetzte Herrscher an seinem Vorhaben fest, „ein zweites, ein drittes und auch ein zehntes Mal zurückzukehren, um zu versuchen, den zerrissenen Donauraum zusammenzuschmieden“. 

Wer die Wege Kaiser Karls I. verstehen will, muß ihn als zutiefst christlichen Menschen begreifen. Seine Glaubensüberzeugung war der Antrieb hinter seinem beharrlichen Festhalten an der Herrschaft. Sein monarchisches Amt, das für ihn ein sakrales war, hatte er nur zwei Jahre lang inne. Mit seinem Regierungsantritt nach dem Tod seines greisen Großonkels Kaiser Franz Josephs fand er sich mitten in dem schon fast verlorenen Ersten Weltkrieg wieder. Als er im Dezember 1916 in der Tradition der Doppelmonarchie in der Budapester Matthiaskirche als König Karl IV. beziehungsweise Károly IV. von Ungarn gekrönt wurde, lastete somit nicht nur die Gewißheit auf ihm, dem am längsten regierenden Habsburger nachzufolgen, sondern auch die Verantwortung, den richtigen Weg für die Union inmitten der Kämpfe einzuschlagen. 

Karls Annahme, die Monarchie könne in veränderter Form, etwa einem lockeren Zusammenschluß von Völkern weiterbestehen, wurde im Sommer 1918 jedoch bitter enttäuscht, als die Alliierten sich auf deren endgültige Zerschlagung einigten. Auch sein Versuch, diese durch die Verkündung des „Völkermanifests“ zu retten, das die künftige Habsburger-Herrschaft als einen Bund unabhängiger Nationalstaaten in Aussicht stellte, änderte an der Entscheidung nichts. 

Auf den ungarischen Thron zu verzichten, kam für ihn jedoch zu keinem Zeitpunkt in Frage. Wie auch seine Frau, Kaiserin Zita, pochte er darauf, daß nur Gott allein einen Kaiser von seiner Pflicht entbinden könne. Karl erklärte sich nach langem Drängen aber bereit, eine Urkunde zu unterschreiben, die ihn vorläufig von der Ausübung seiner Regierungsgeschäfte freistellte. Darin heißt es: „Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle meine Völker erfüllt, will ich ihrer freien Entfaltung meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen.“ Und weiter: „Möge das Volk von Deutschösterreich in Eintracht und Versöhnlichkeit die Neuordnung schaffen und befestigen.“ 

Was mehrere Gruppen innerhalb der nun unabhängigen Donaumonarchie-Staaten, allen voran Tschechien, als endgültige „Befreiung“ empfanden, hatte sich Karl nur als befristeten Zustand vorgestellt. An Papst Benedikt XV. schrieb er 1919: „Ich bin fest entschlossen, niemals abzudanken. Ich betrachte mich keineswegs an diese Erklärung gebunden, denn sie wurde von mir in einem Augenblick erpreßt, als ich keine Möglichkeit mehr hatte, die Revolution zu ersticken.“ Sein Sohn Otto berichtete später, sein Vater habe ihm gegenüber versichert, daß das Geschehene „nicht die Tat der Nationen im allgemeinen war, sondern einiger weniger, die an der Macht waren“. 

Einer neuen Union nach Karls Vorstellung mußte dessen Meinung nach eine Teilrestauration in einem der Nachfolgestaaten vorausgehen, wie der Würzburger Historiker Matthias Stickler beschreibt. Der Habsburger richtete den Blick dabei auf Ungarn, das auf der Grundlage der Verträge von Saint-Germain (1919) und Trianon (1920) nicht nur staatlich von Österreich abgetrennt worden war, sondern auch über die Hälfte seiner Gebiete samt der dort lebenden Bevölkerung an Rumänien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei verloren hatte. 

Anders als in Österreich schien eine Restauration dort politisch realisierbar, denn nach einer kurzen Schreckensepisode einer sozialistischen Räterepublik unter Béla Kun stellte sich Ungarn seit 1919 wieder vollständig in die Traditionslinie des Königreichs. 

Karl blieb Begräbnis in seiner Heimat verwehrt

An diesem Thron hielt Karl fest, der sich selbst nach seiner Niederlage gegen Horthys Truppen einer Verzichtserklärung versperrte. „Solange mir Gott die Kraft gibt, meinen Pflichten nachzukommen, kann ich auf den ungarischen Thron nicht verzichten“, führte er aus. Er stimmte aber zu, nur dann nach Ungarn zurückzukehren, wenn die Nationalversammlung die von ihr beschlossene Aussetzung seiner königlichen Rechte und Pflichten aufhebe. 

Sein Scheitern schrieb Karl der „antihabsburgerischen Politik“ nicht nur der Großen, sondern auch der Kleinen Entente zu. Bei dieser handelte es sich um ein Defensivbündnis gegen Ungarn, zwischen der Tschechoslowakei, Jugoslawien und ab 1921 auch Rumänien. Die Macht, die der Habsburger verloren hatte, floß geradewegs Horthy zu, der von der Entente als Verhinderer eines erneuten kommunistischen Umsturzes geduldet wurde. Dem Monarchen, der nur ein halbes Jahr später im Alter von nur 34 Jahren verstarb, blieb hingegen selbst die Bestattung in seiner Heimat verwehrt. Bis heute liegt er in seinem Exil Madeira begraben. 

Foto: Das österreichische Kaiserpaar Karl I. und Zita (rechts auf den Bahngleisen kniend) bei einer provisorischen Messe nahe Budapest während des zweiten Restaurationsversuchs: Sein monarchisches Amt verstand der Habsburger als zutiefst sakrales