© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Wissenschaftler als Beute
Vor 75 Jahren: Die Sowjetunion startet die „Aktion Ossawakim“
Jürgen W. Schmidt

Um sich die Resultate der fortgeschrittenen deutschen militärtechnischen Forschung anzueignen, starteten die USA im Herbst 1945 die Aktion „Paperclip“. Dabei wurden mit ihrem Einverständnis führende deutsche Forscher, deren namhaftester Wernher von Braun war, in die USA verbracht. 

Der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin initiierte einige Monate später, natürlich unter strenger Geheimhaltung, die Vorbereitung einer ähnlichen, allerdings umfangreicheren Aktion, welche man im Westen später Aktion „Ossawakim“ nannte. Unverhofft wurden am frühen Morgen des 22. Oktober 1946 aus der sowjetischen Besatzungszone etwa 2.500 Spitzenforscher nebst 4.000 Familienmitgliedern in 92 Zügen in die Sowjetunion deportiert. 

Großer Einfluß auf sowjetische Luft- und Raumfahrt

Dort konnten sie allerdings unter relativ komfortablen Lebensbedingungen, welche die der „normalen“ Sowjetbürger übertrafen, weiter auf ihren Spezialgebieten forschen. Die Aufgaben legten natürlich die Sowjets fest. Zur Verbringung in die Sowjetunion wurde, im Gegensatz zu den US-Amerikanern, auf das vorherige Einverständnis der Betroffenen verzichtet. Es ging Stalin darum, in militärisch bedeutsamen Technologien (Raketentechnik und Strahlflugzeugbau), aber ebenso in der Optik, im Elektrowesen, der chemischen Industrie und im Schiffbau, das überlegene deutsche Know-how abzugreifen.

 Obwohl dies so nicht im Vertrag von Potsdam festgehalten war, dienten die deutschen Forscher der Sowjetunion als „intellektuelles Reparationsgut“. In der SBZ wurde diese Aktion in den Medien totgeschwiegen. Teilweise war die Aktion „Ossawakim“ für die Sowjetunion von erheblichem Erfolg gekrönt. So war der vormalige Junkers-Konstrukteur Brunolf Baade an der Entwicklung der ersten sowjetischen Strahlflugzeugbomber beteiligt. Obwohl die Masse der führenden deutschen Raketenspezialisten in den USA weilte, gelang es mit Helmut Gröttrup den Stellvertreter von Brauns, welcher die Steuer- und Lenksysteme der V2 entwickelt hatte, zu „erbeuten“ und zusammen mit ihm viele Raketenwissenschaftler der mittleren Ebene. Sie halfen der Sowjetunion, bis 1957 die auf der V2 basierende Interkontinentalrakete R-7 zu entwickeln, welche später auch Gagarin ins All trug. Heutige russische „Weltraum-Lastpferde“ vom Typ Sojus stellen eine modernisierte R-7 dar. 

Hingegen gelang es den vorrangig aus den Firmen Carl Zeiss und Schott stammenden deutschen Optik- und Glasforschern nicht, der sowjetischen Industrie einen entsprechenden „Push“ zu geben, weil doch zu viele Grundlagen fehlten. Zwischen 1951 und 1957 kehrten die in die Sowjetunion entführten Forscher wieder in die DDR, oder wahlweise in die Bundesrepublik, zurück. Zwar hatte man sie um Jahre ihres Lebens beraubt, doch war es ihnen möglich, auf ihren Stammgebieten wissenschaftlich zu arbeiten. Sie konnten deshalb ihre wissenschaftliche Karriere in der DDR bzw. Bundesrepublik nahtlos fortsetzen.