© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Das Leid der Glücksbringer
Schweinerückstau in England: Die Krise droht auf Europa überzuschwappen
Martina Meckelein

Wir Menschen haben schon Schwein gehabt, immerhin sind wir nicht als Schwein auf die Welt gekommen. Warum das Borstenvieh allerdings ein Glücksbringer sein soll, wird ihm in seiner Bucht wohl bis zum Tag seiner Schlachtung nicht verständlich gemacht werden können. Europäischen Schweinen geht es ganz besonders dreckig. Es sind kerngesunde Tiere und trotz alledem werden sie gekeult. Alles begann in England, doch diese Entwicklung droht jetzt auf das Festland überzuschwappen.

Unter Keulen versteht man das vorsorgliche Töten von Nutztieren, gerade wenn Gefahr droht, daß sie sich mit dem Erreger einer Tierseuche angesteckt haben oder anstecken könnten. Wurden sie früher mit einer Keule erschlagen – daher stammt der Begriff – werden sie heute vergast. Was zur Zeit in England allerdings passiert, ist die Pervertierung schlechthin. „Etwa 600 gesunde Schweine, die man nicht habe zum Schlachthof bringen können, seien getötet worden“, alarmierte der englische Schweinebauernverband National Pig Association (NPA) die Öffentlichkeit. 

Der Verband warnte davor, daß sogar bis zu 120.000 Schweine gekeult werden müßten, sollte nicht schnellstens Personal eingestellt werden. Denn in England fehlt es durch die Corona-Maßnahmen vor allem an ausländischen Fachkräften. Seien es Lkw-Fahrer, Handwerker, Erntehelfer oder eben Schlachter. Heißt: Keine Mitarbeiter in den Schlachthöfen, zu wenig Futter, und die armen Säue ferkeln doch. Die Folge: Die Ställe platzen aus allen Verschlägen. Jede Woche werden weitere 15.000 Ferkel geboren. Dabei bestand schon im September ein Überhang von 85.000 schlachtreifen Schweinen in Englands Ställen.

Schweinerückstau könnte zur Tötung gesunder Tiere führen

Das Nachrichtenmagazin für die Landwirtschaft, Agrarheute, berichtete im September 2021 über die Situation in England: Der Schweinerückstau verursache nun weitere Probleme für die Landwirte und zwinge sie, zusätzliches Geld für teures Futter zu beschaffen und Strafen für den Verkauf übergewichtiger Schweine zu zahlen. Zoe Davies, Geschäftsführerin der NPA, wird folgendermaßen zitiert: „Viele Landwirte sind gezwungen, sich der realen Aussicht zu stellen, Schweine töten zu müssen, weil sie einfach nirgendwo mehr mit ihnen hin können.“ Monatelang schien die britische Regierung weder sehen noch hören zu wollen. Auch auf die Warnungen der Schweinebauern, daß CO2, das zur Massentötung der Tiere eingesetzte Gas, knapp werden könnte, reagierte sie nicht. Die englische Schweineindustrie demonstrierte. Bis zur Keulung der Tiere. Dann begann die englische Presse über die Situation zu berichten, so die NPA. Am Mittwoch vergangener Woche schien dann doch ein Licht am Horizont aufzutauchen. Demnach habe sich, so NPA-Geschäftsführerin Zoe Davies, die Reaktion der Regierung auf die Krise der Schweineindustrie positiv verändert. 

In Deutschland sieht die Situation, zwar aus anderen Gründen, ebenfalls düster aus. 1950 hielten 2,4 Millionen Schweinehalter etwa zwölf Millionen Tiere, so die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Die Betriebszahlen sinken seit Jahrzehnten: von 2007 bis 2013 um 65 Prozent. Heute sind es noch 22.900 Betriebe, die allerdings mehr als doppelt so viele, nämlich 26,9 Millionen Schweine zur Fleischerzeugung halten. Doch der Verbrauch sinkt in Deutschland seit Jahren. Vor 20 Jahren aß jeder hierzulande noch rund 40 Kilogramm Schweinefleisch pro Jahr. Statistisch gesehen, ißt heute jeder Bundesbürger nur noch rund 35,9 Kilogramm Schweinefleisch pro Jahr. Dieser Rückgang wurde vor Corona noch durch den Export aufgefangen: Denn Deutschland war mit 2,5 Millionen Tonnen der größte europäische Schweinefleischexporteur, noch vor Spanien. Weltweit stand Deutschland an dritter Stelle, hinter China und den Vereinigten Staaten. 

Der Export nach China war äußerst lukrativ, weil in dem Land die Teile gegessen werden, die hierzulande kaum über den Tresen gehen: Köpfe und Schweinefüße. Allerdings ist der Export, wegen der bei uns ausgebrochenen Afrikanischen Schweinepest (ASP), unterbrochen. Die tödliche Virusinfektion ist hochansteckend, für Menschen allerdings ungefährlich. Ein erster ASP-Fall wurde in Schenkendöbern im Landkreis Spree-Neiße am 10. September 2020 festgestellt. 

Bisher betroffen sind vor allem Wildschweine in Ostdeutschland. Der Landkreis Vorpommern-Greifswald versucht sich mit dem Bau eines zweiten Wildzauns zu schützen, doch wer übernimmt die Kosten? Im Landkreis Oder-Spree in Brandenburg, berichtet die Märkische Oderzeitung, würden zum Aufspüren von verendeten Tieren Spürhunde und Drohnen eingesetzt. Jäger und Freiwillige sollen gegen eine Aufwandspauschale von 60 Euro ebenfalls nach toten Wildschweinen suchen, um eine Ausbreitung der Tierseuche zu verhindern. 

Das Schweinegeschäft ist für die Bauern hierzulande zu einem Minusgeschäft geworden. Denn die Preise rauschen in den Keller. Vom 7. bis zum 13. Oktober notiert die VEZG einen Schweinepreis von 1,20 Euro je Indexpunkt“, so Agrarheute. „Zur vorigen Notierung haben die Preise damit nochmals um 4 Cent nachgegeben.“ Dabei stieg die Zahl der zur Vermarktung angemeldeten Schweine um ein Prozent auf 286.400 Tiere, in der Vorwoche waren es noch 284.000 Tiere. Auch werden die Tiere – dasselbe Problem wie in England – immer schwerer. Ihr durchschnittliches Schlachtgewicht beträgt 97,3 Kilogramm, ein Anstieg zur Vorwoche um 100 Gramm. Dies deute auf einen weiter wachsenden Angebotsstau bei Schweinen hin, so das Nachrichtenportal. Sinkender Export, aber auch an die zurückgehende Inlandsnachfrage der Restaurants, die monatelang durch die Corona-Maßnahmen geschlossen waren, seien ursächlich. 

Corona-Krise erschwert Abläufe in den Schlachthäusern

Am gesamten europäischen Markt herrrscht deshalb ein Überangebot an Schweinefleisch. Die Kühlhäuser sind auch noch voll. In Deutschland kam Anfang 2020 dazu, daß gerade in den Schlachthöfen unter den Mitarbeitern Corona grassierte. Über Wochen waren sie geschlossen, so konnte auch hier nicht geschlachtet werden. 

Unterm Strich sank der Verbrauch pro Kopf in diesem Jahr sogar auf 32 Kilogramm Schweinefleisch. Damit nicht genug: Denn im Gegensatz zum Schweinefleischpreis steigen die Kosten in der Aufzucht. Die Futtermittelkosten steigen durch die schlechten Ernten in den vergangenen Jahren um rund ein Viertel, dazu auch höhere Personal- und Energiekosten. Eine Besserung der Situation ist nicht absehbar.

National Pig Association (NPA) npa-uk.org.uk