© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Der Flaneur
Herbst auf der Leiter
Paul Leonhard

Rot, Grün, Gelb in allen Nuancen. Ein wunderschöner Anblick, von der tiefstehenden Sonne exakt ausgeleuchtet. Der Herbst hat den Spätsommer hinter sich gelassen. Das kleine Mädchen schaut staunend auf die bunten Blätter der Bäume. Eines läßt der Wind gerade vor ihrer Nase tanzen. Sie schnappt es sich und reckt es mir ins Gesicht.

„Das sind die Farben des Herbstes“, sage ich ihr. Das Blatt sei rot. Sie wiederholt den Namen der Farbe, nickt dabei wichtig mit dem Kopf und hebt ein anderes auf, ein grünes, dann ein gelbes, ein braunes und dann noch eines in leuchtendem Rostrot.

Meine Frau steckt mir ein paar Kastanien in die Jackentasche: „Handschmeichler“

Ein hübscher Blätterstrauß ist entstanden. „Für Mama“, sagt die Kleine. Ich gehe in die Hocke und singe ihr halblaut vor: „Der Herbst steht auf der Leiter und malt die Blätter an“. Das Mädchen staunt: Der Papa singt. Der Große auch, der gerade noch mit seinen in Gummistiefeln steckenden Füßen das trockene Laub hat aufstieben lassen. „Warum steht der Herbst auf der Leiter?“ will er wissen. Ja, warum?

Wie grübeln gemeinsam. Weil die Bäume so hoch und groß seien, versucht der Junge mir wie einst der Lehrer zur richtigen Antwort zu helfen. „Genau“, sage ich. Und warum werden die Blätter so bunt? Während ich noch nach einer kindgerechten Antwort suche, kommt bereits die nächste Frage. Warum gibt es keine bunten Tannen? Der Sohn scheint das Warum-Alter erreicht zu haben.

Meine Frau kommt dazu und schiebt mir lächelnd zwei glänzende, braune Kastanien in die Jackentasche. „Handschmeichler“, flüstert sie und gibt mir einen Kuß. Die Kinder haben die Früchte gesehen und stürzen jubelnd los, um welche einzusammeln. Plötzlich bleibt der Große abrupt stehen, kommt dann aufgeregt und ein wenig ängstlich zu mir gerannt. Atemlos zeigt er auf einen Mann in orangener Arbeitskleidung und Schutzhelm, der mit einer Motorsäge auf einer Hubbühne steht und in der Krone einer Eiche hantiert. „Papa, ist das der Herbst?“