© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Keine Sonderwege in die Urkatastrophe
Rachedurst, Hybris, Angst vor ökonomischem Machtverlust oder diplomatisches Ungeschick: Der Würzburger Historiker Rainer F. Schmidt hat eine bemerkenswerte Analyse über die verschiedenen Entwicklungen und ihre Triebkräfte in den europäischen Mächten vor dem Ersten Weltkrieg vorgelegt
Karlheinz Weißmann

Es geistert seit einiger Zeit die Behauptung durch Feuilletons und Hochschulkreise, daß ein neuer Historikerstreit bevorstehe. Unter den Themen, die geeignet wären, eine solche Debatte auszulösen, sticht das Kaiserreich hervor. Tatsächlich kreisten die letzten größeren Auseinandersetzungen, die mit einer gewissen Schärfe geführt und auch Eingang in die Fachorgane gefunden haben, um die Frage, wie man den 1871 gegründeten „Bismarckstaat“ zu bewerten habe: als Gegenentwurf oder als Vorstufe des NS-Regimes.

Schon in der Einleitung seines Buches „Kaiserdämmerung“ erteilt Rainer F. Schmidt – emeritierter Ordinarius für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte der Universität Würzburg – dieser Fragestellung eine Absage, weil sie die Offenheit des historischen Prozesses übergeht. Womit er keineswegs bestreitet, daß sich am Ende des 19. Jahrhunderts Entwicklungen vorbereiteten, die schließlich zu fatalen Konsequenzen führten: dem Ersten Weltkrieg, dem Versailler „Scheinfrieden“ – dessen „Diktatcharakter“ Schmidt ausdrücklich hervorhebt –, der Unfähigkeit der Sieger, ein stabiles Staatensystem zu errichten, dem „totalitären Gesamttrend“, der Entschlossenheit der Verlierer – insbesondere Deutschlands und der Sowjetunion –, eine Revision herbeizuführen, auch um den Preis eines Zweiten Weltkriegs.

Wenn Schmidt von dieser Kontinuität spricht, macht er gleichzeitig deutlich, daß Massenagitation, Militarisierung und imperiale Bestrebungen Phänomene waren, die mehr oder weniger ausgeprägt in allen modernen Staaten auftraten. Keinesfalls will er gelten lassen, daß man es hier mit einem spezifisch deutschen Phänomen zu tun habe oder gar mit jenem „Sonderweg“, der nach üblicher Lesart direkt vom Schlachtfeld bei Sedan in die Hölle von Auschwitz führte. Ein Aspekt, der naturgemäß besonderes Gewicht in der Darstellung der diplomatischen und der Bündnisentwicklungen haben muß. Angesichts der Beschränkung von Schmidts Darstellung auf die Zeit zwischen 1890 und 1914 geht es dabei vor allem um die Klärung der Frage, welche Folgen der Abgang Bismarcks, die Einleitung des „Neuen Kurses“ durch den jungen Kaiser Wilhelm II. – Schmidt spricht von „Weichenstellungen ins Nirwana“ – und die zunehmende Verschärfung der Blockkonfrontation zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen, Frankreich, Rußland und Großbritannien auf der anderen Seite hatte.

 Ungewöhnlich ist in diesem Zusammenhang, welches Gewicht er dem Bemühen Berlins um einen Ausgleich mit Sankt Petersburg und London beimißt und wie er dessen Scheitern bewertet. Schmidt sieht jedenfalls weder im deutschen Streben nach einem „Platz an der Sonne“ noch in den ungeschickten Auftritten des Kaisers, noch in der Flottenrüstung die eigentliche Ursache für die Verschärfung der Lage. Den Ausschlag gaben seiner Meinung nach das französische Rachebedürfnis angesichts der Niederlage von 1871, die britische Angst vor Deklassierung in ökonomischer Hinsicht und die russische Hybris.

Damit ist auch klargestellt, daß Schmidt nichts von der These hält, Deutschland habe 1914 eine Art Flucht in den Krieg angetreten. Folgt man seiner Darstellung, bestand dazu kein Anlaß. Denn der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft hatten einen beneidenswerten Grad an Stabilität erreicht. Zum Ausdruck kam der nicht nur in der Beendigung der großen inneren Konflikte der Gründungszeit (Kulturkampf und Sozialistengesetze), sondern auch im hohen Grad innerer Befriedung, der außergewöhnlichen Entfaltung der Wirtschaftskraft und der fortschreitenden Integration der Industriearbeiter. Selbstverständlich kann keine Rede von einem konfliktfreien Ganzen sein, aber doch davon, daß die Gefolgschaft radikaler Randgruppen – von den Anarchosyndikalisten bis zu den Rassezüchtern – marginal blieb und jedenfalls außerstande war, das System selbst in Frage zu stellen.

Schmidt hebt diesen Tatbestand auch deshalb hervor, um der Behauptung eines „Modernitätsdefizits“ entgegenzutreten, die nicht zuletzt mit Verweis auf die monarchische Verfassung Deutschlands erhoben wird. 

Zu Recht verweist er darauf, daß am Beginn des 20. Jahrhunderts kaum jemand ernsthaft in Frage stellte, daß das Kaiserreich allen Anforderungen eines zeitgemäßen Staatswesens entsprach, sie in vielerlei Hinsicht – was den Stand der Technik, der Urbanisierung, des Bildungssystems, der Verwaltungsqualität, des Ausbaus der öffentlichen Wohlfahrt anging – sogar übertraf. Selbst wenn man den Status von Adel und Offizierskorps als „Relikte“ der Vergangenheit betrachte, die preußische Hegemonie und die fehlende Regierungsverantwortung gegenüber dem Reichstag kritisiere, müsse man zugeben, daß „viele Deutsche der Wilhelminischen Epoche (…) in der parlamentarischen Arbeit mit ihren zeitraubenden Beratungen, schiefen Kompromissen und Partikularinteressen eine nutzlose Zeit- und Kraftverschwendung“ sahen. Die Mehrzahl der Bürger habe sich im „Obrigkeitsstaat“ klaglos eingerichtet und kaum mit einem Briten, Franzosen, Russen oder Amerikaner tauschen wollen; sei es wegen der verbreiteten Armut, der Korruption der Politischen Klasse, der schrankenlosen „Selbstherrschaft“ eines Zaren oder der Allmacht des Dollars.

Schmidt korrigiert damit auch die Vorstellung von einem „ruhelosen Reich“ (Michael Stürmer), das schon wegen der Distanz zu vermeintlich westlich-demokratischen Standards sein historisches Existenzrecht verwirkt habe. Aus seiner Sicht war der Erste Weltkrieg jene „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts, von der zuerst der US-Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904–2005) gesprochen hat, um das Ineinander von Zufall, persönlichem Versagen und Eigendynamik der politischen wie militärischen Abläufe zu charakterisieren. 

Die Sorgfalt und Besonnenheit der Argumentation erleichtert es, Schmidt diesbezüglich beizupflichten und zu folgen. Was auch bedeutet, daß sich sein Werk kaum eignet, den eingangs erwähnten neuen Historikerstreit auszulösen. Indes: Schmidt hat auch warnend auf das Defizit an Sachlichkeit in der deutschen Geschichtswissenschaft hingewiesen, die Fixierung seiner Kollegen auf Monokausalität, auf „abenteuerliche Kontinuitätslinien“ und ein Wächteramt, das sie sich anmaßen, um den „Schuldkomplex“ der Deutschen zu konservieren und ihnen jedes Entkommen aus der „Schuldfalle“ unmöglich zu machen.

Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 880 Seiten, Abbildungen, 38 Euro