© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Mehr als das Äußerliche
Verzicht auf die Pose des Anklägers oder des Apologeten: Der langjährige FAZ-Journalist Lorenz Jäger hat eine tiefsinnige Biographie des Philosophen Martin Heidegger vorgelegt
Thorsten Hinz

Am Anfang waren das Glockenläuten und des kleinen Martins Glockendienst in Meßkirch zwischen Donau und Bodensee, wo er 1889 geboren wurde: „Der Glockenklang verspricht denen seinen Segen, die ihm irgendwie antworten. Er versammelt die Gläubigen. Er spricht zur Seele. Er sagt die Stunden. Und vor allem: Er klingt! Damit erreicht er nicht nur die Ratio, sondern bringt, als auf eigentümliche Töne gestimmter Klang, in eine Stimmung. Und nur als Ensemble dieser Momente gliedert der Glockenklang die Zeit.“ 

Die singenden, klingenden Sätze, die Lorenz Jägers Biographie über Martin Heidegger einleiten und die Intention seines Philosophierens metaphorisch vorwegnehmen, paraphrasieren einen autobiographischen Text aus dem Jahr 1954, „Das Geheimnis des Glockenturms“. Zugleich erinnern sie an den Anfang des Romans „Der Erwählte“ von Thomas Mann, der die Legende vom Ritter Gregorius nacherzählt. Dieser stürzte schicksalhaft aus großer Höhe in tiefste Verdammnis, büßte 17 Jahre lang auf einer Felseninsel, um schließlich in den Zustand höchster Gnade versetzt und zum neuen Papst erwählt zu werden. Auch Lorenz Jäger – bis 2016 als letztes konservatives Feigenblatt im FAZ-Feuilleton tätig – zeichnet nicht nur die Denkwege eines Jahrhundertgenies nach, er erzählt auch eine exemplarische Biographie: „Ein deutsches Leben“.

Der Sproß eines gut katholischen, „alemannisch-schwäbischen Bauerngeschlechts“ heiratete eine Protestantin. Nach dem Ersten Weltkrieg befreundete er sich mit dem sechs Jahre älteren Karl Jaspers, von dem er sich nach 1933 völlig entfremdete. Heidegger lobte Jaspers’ „Psychologie der Weltanschauungen“, bemängelte aber, daß er beim Zugriff auf die Existenz bei einer „verkappten ästhetischen Haltung“, also beim Äußerlichen, verbleibt. 1927 dann sein Meisterwerk „Sein und Zeit“. Jäger verfügt über das intellektuelle und sprachliche Vermögen, um Heideggers enigmatische Begrifflichkeit ins Alltagsdeutsch zu übersetzen, etwa: „‘In-Sein’ bedeutet Bindung an einen Ort.“

Seit 2014 die „Schwarzen Hefte“ publik wurden, sind Heideggers Affinität zum Nationalsozialismus und sein Antisemitismus erneut in den Fokus gerückt. Jäger beschönigt nichts, er klärt auf. Heideg-ger fürchtete, daß die mit einer strikten Ideologie ausgestattete kommunistische Bewegung die taumelnde Republik von Weimar überwältigen würde. Aufmerksam las er die Jüdische Rundschau und war befremdet von der Nähe jüdischer Intellektueller zu kommunistischem Gedankengut. Jäger, der auch eine bemerkenswerte Biographie über Walter Benjamin verfaßt hat, zieht ein trockenes Fazit: „Wo Heidegger von Heimat spricht, da spricht Benjamin von etwas, das erst durch ein voraufgehendes Strafgericht gerechtfertigt werden kann.“

Das 26. der insgesamt 42 Kapitel, „Der Weltkrieg“, ist ein Höhepunkt des Buches. Im November 1940 notiert Heidegger eine auf den ersten Blick schwer verständliche Koinzidenz: „Der russische Außenminister Molotow kommt nach Berlin, und die neueste Neuzeit der Deutschen wird sichtbar. Hölderlins Hymne ‘des’ Heiligen ‘Wie wenn am Feiertage …’ ist gedeutet und die verborgene Geschichte verhüllt ihren anderen Anfang.“

Jäger interpretiert die delphischen Sätze aus der Polarität von „sichtbar werden“ einerseits und der Verborgenheit und Verhüllung andererseits. Das deutsch-sowjetische Treffen habe „sichtbar“ gemacht, daß die Konfrontation beider Regimes unausweichlich wurde und die technischen „Machenschaften“ (Heidegger) als „Manipulation des Seienden“ (Jäger) über Deutschland hinwegfegen würden. Die „verborgene Geschichte“ aber verhüllte sich im von Hölderlin beschworenen Heiligen, das in besagter Hymne zum Wort geworden sei. Heidegger: „Dies Wort ist, noch ungehört, aufbewahrt in die abendländische Sprache der Deutschen.“ Nach der Niederlage von Stalingrad 1943 beginnt er „Untergänge zu denken“ und beschäftigt sich mit Hölderlins Gedicht „Heimkunft“. Von nun an sei Heimat mehr als „Naturvorhandenes, nicht als Gabe allein, sondern als Aufgabe“ zu verstehen.

Für Heidegger, so Jäger, sei in Hölderlins Dichtung die Gedankenwelt der Griechen und der Deutschen, die für ihn einzig „philosophisch relevanten Völker“, zusammengeflossen, so daß in seinem Denken für Jüdisches kein Raum mehr gewesen sei. Als Fußnote sei angemerkt, daß zur selben Zeit ein junger deutscher Jude und Hölderlin-Verehrer, der sich 1943 in die Schweiz gerettet hatte, im Internierungslager einen Text verfaßte, in dem er von der „traumhaft-unwiderlegbaren Verschmelzung germanischer und hellenischer Landschaft“ in Hölderlins Dichtung und von seiner „drängenden Anrufung des Betrachteten“ schwärmte. Hölderlins vom „stählernen Willen getragener heroischer Kampf“ zeige den Weg, um „aus der motorisierten Steinzeit (…) den europäischen Geist hinüberzuretten ins Nachkommende“. Der Jude hieß Rudolf Leder und wurde als Stephan Hermlin bekannt.

Sie alle werden ausführlich in ihrem Verhältnis zu Heidegger thematisiert: Hannah Arendt. Gadamer, Husserl, Löwith, Marcuse, Sartre und viele andere. Interessanterweise begann Heideggers von Frankreich ausgehende Nachkriegsresonanz noch während der deutschen Besatzung. Die Schwarzwaldhütte in Todtnauberg und das Treffen mit Paul Celan finden genauso Erwähnung wie Heideggers überzogene Abwehr von Schuldvorwürfen nach dem Krieg, als er NS-Verbrechen zu „Handgreiflichkeiten“ herunterredete. 

Heute lautet die Frage: Wo verhüllt sich der „andere Anfang“ der „verborgenen Geschichte“, wenn der Muezzin-Ruf das Glockengeläut übertönt und die „abendländische Sprache“ von der „Machenschaft“ der Technokraten, Ideologen, Globalisten überwältigt zu werden droht? Weiterhin in den Hymnen Hölderlins?

Lorenz Jäger hat ein tiefsinniges, ein hochliterarisches, kurzum: ein großartiges Buch verfaßt.

Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben. Rowohlt Verlag, Berlin 2021, gebunden, 608 Seiten, 28 Euro