© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Vieles ist unverhältnismäßig
„Freiheit in Gefahr“: Der frühere Präsident des Bundesverfassungs-gerichts Hans-Jürgen Papier rechnet mit dem auf zweifelhafter Rechtsgrundlage agierenden Corona-Verbotsregime ab
Björn Schumacher

Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts von 2002 bis 2010, lieferte mit seinem Buch „Die Warnung: Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ (2019) einen Bestseller. Merkels „Grenzöffnung“ für Asylbewerber, die aus sicheren Drittstaaten kommen, geißelte er als „Rechtsbruch“. Humanitätserwägungen müßten hinter Artikel 16a Absatz 2 Grundgesetz und die EU-Verordnung Dublin III zurücktreten.

Ergänzend sei gesagt, daß sich die Frage nach der Humanität nicht erschöpfend aus universalistischer Gesinnungsethik beantworten läßt. Auch der Schutz der durch Massenzuwanderung bedrohten Aufnahmegesellschaft ist ein moralisches Postulat. Daher verlangt eine plausible Staatsethik nicht erst seit Thomas Hobbes (1588–1679) die strikte Befolgung von Gesetzen („Schutz gegen Gehorsam“). Im Römerbrief des Apostels Paulus heißt es: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat“ (Röm. 13,1).

Vor diesem Hintergrund liefert Papiers aktuelles Werk Kontrapunkte zum Vorgängerbuch. Diesmal geht es nicht um den ungezügelten Mißbrauch eines Freiheitsrechts (Asyl), sondern um Einschränkungen bürgerlicher Freiheitssphären durch die Staatsgewalt.

Triebfeder ist die Covid-Pandemie: „Der Großteil meiner Überlegungen zur Bedeutung unserer Freiheit ist von ihren Auswirkungen erfaßt und mitgeprägt worden.“ Papiers Ausführungen kreisen um zwei Schwerpunkte: das flächendeckende Herunterfahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens durch Lockdowns sowie eine im demokratischen Rechtsstaat befremdliche Neigung, Lösungen nicht auf parlamentarischer, sondern auf regierungsamtlicher Ebene zu suchen.

Papier hält die mit Grundrechtsbeschränkungen verknüpften Lockdowns zu einem nicht geringen Teil für unverhältnismäßig. Exemplarisch nennt er Beherbergungsverbote und nächtliche Ausgangsverbote für jedermann, obwohl man in Wahrheit bezweckt habe, Zusammenkünfte kontaktfreudiger Personengruppen zu verhindern. Willkürlich sei auch das später vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gekippte Verkaufsverbot für Geschäfte mit Flächen von über 800 Quadratmetern gewesen. Deutlicher noch rügt der Autor das „Verstummen der Parlamente“ − ein altbekanntes Phänomen bundesdeutscher Rechtsgeschichte. Mehrfach hatte sein Karlsruher Richterkollege Udo Di Fabio den Abgeordneten des Bundestags die Leviten gelesen, weil sie die Übertragung von Kompetenzen an die EU „abgenickt“ und ihre Rolle als Organ parlamentarisch-demokratischer Kontrolle sträflich vernachlässigt hätten.

Folge dieser Zurückhaltung war ein Machtvakuum, in das eine demokratisch nicht legitimierte „Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin“ stieß. Versorgt von Stichwortgebern wie dem Robert-Koch-Institut und dem Virologen Christian Drosten, errichtete sie ein Corona-Verbotsregime auf zweifelhafter Rechtsgrundlage. Selbst die Novelle des Infektionsschutzgesetzes Ende 2020 stärkte die Parlamente kaum, weil die Exekutive mit dem neuen Paragraph 28a („Besondere Schutzmaßnahmen“) eine Ermächtigung zum „Weiter so“ bekam.

Mehr Tiefenschärfe hätte man sich beim Thema Umgang mit Ungeimpften gewünscht. Eher beiläufig schreibt Deutschlands höchster Richter a. D.: „Der Daseinsvorsoge dienende Einrichtungen wie Supermärkte, Krankenhäuser, Apotheken oder öffentliche Verkehrsmittel müßten von Rechts wegen für alle zugänglich sein.“ Daß diese Selbstverständlichkeit bröckelt und ungeimpfte Bürger mit ausgeklügelten „Schikanen“ zur Impfung gedrängt werden sollen, bleibt unkommentiert. 

Anlaß zu Skepsis bieten auch die Buchkapitel „Systemvergleiche“ und „Der Wert der Freiheit in der Europäischen Union“. Papier rügt die „illiberalen Demokratien“ Ungarns und Polens, vor allem deren Umgang mit Medien und Verfassungsgerichten. „Pluralistische Gesellschaften“, doziert er, „werden nicht mehr vorrangig durch gemeinsame Tradition, Religion oder Kultur zusammengehalten. Sie finden statt dessen in der Anerkennung der Verfassung (…) ihre verbindende Grundlage.“ Pluralismus und Verfassungspatriotismus anstelle von Heimat, Nation und Homogenität? Die Begriffe spiegeln eine alte Grundsatzdiskussion. Ohne den konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt beim Namen zu nennen, verortet sich Hans-Jürgen Papier als mainstreamliberaler „Anti-Schmitt“.

Polnische und ungarische Mediengesetze mögen diskussionswürdig sein. Verblüffen muß aber der Umstand, daß Papier den deutschen Medienbetrieb ausklammert, allen voran den durch Zwangsbeiträge finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dieser beschwört die Presse- und Rundfunkfreiheit, mißbraucht aber seinen damit korrespondierenden Informationsauftrag durch grün-rote Dauerpropaganda und lückenhafte, manipulative Berichterstattung mit „Framings“ und ideologischen Büchsenspannern und Haßpredigern wie Jan Böhmermann.

Scheut der Autor offene Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendern, weil er dann seinen Nachfolgern im Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts auf die Füße treten müßte? Regelmäßig erteilen diese den Zwangsbeiträgen ihren höchstrichterlichen Segen. Dem ÖR-Rundfunk bescheinigten sie unlängst, „authentische, sorgfältig recherchierte Informationen“ zu liefern, „Fakten und Meinungen auseinanderzuhalten und die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen“. 

Unerwähnt bleibt auch eine weitere, höchst „illiberale“ Karlsruher Entscheidung, der Klimaschutzgesetz-Beschluß vom 24. März 2021, in dem die Freiheitsrechte des Grundgesetzes mitsamt ihrem Wohlstandsversprechen einem zivilreligiösen Klimaschutzfuror weichen müssen − noch dazu unter Heranziehung fragwürdiger, teils widerlegter naturwissenschaftlicher Thesen. 

Papier selbst hatte 2009 mit seinem Ersten Senat die Meinungsfreiheit durchlöchert. Entgegen Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz, der Beschränkungen dieses Grundrechts nur durch „allgemeine Gesetze“ erlaubt, erklärte Karlsruhe im „Wunsiedel-Beschluß“ den Paragraph 130 Absatz 4 Strafgesetzbuch („Billigung der NS-Gewalt- und Willkürherrschaft“) für verfassungsgemäß. Leitplanke war die Bewertung des Grundgesetzes als „Gegenentwurf zum Nationalsozialismus“. Die Richter blendeten aus, daß unsere Verfassung jede Form von Totalitarismus bekämpft.  

Daß ein früherer Verfassungsrichter sich zum Anwalt bedrohter Freiheitsrechte macht, ist verdienstvoll. Gefahren drohen der Freiheit aber nicht nur durch Legislative und Exekutive inklusive machthungriger EU-Organe, sondern auch durch die von ihm repräsentierte dritte (rechtsprechende) Gewalt und einen ideologisch verzerrten, manipulativen Medienbetrieb.

Hans-Jürgen Papier: Freiheit in Gefahr.  Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können. Ein Plädoyer von Deutschlands höchstem Richter a.D. Heyne Verlag, München 2021, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro