© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Konformismus bis zum bitteren Ende
Der linke französische Philosoph Alain Deneault rechnet mit der von der Technokratie des Regierens erfüllten „extremen Mitte“ ab. Doch seine Ansätze zum Widerstand verkennen die Lage im linken Milieu
Björn Harms

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Demokratie im Westen eine Form des Zentrismus eingenommen, in der es sich sowohl Mitte-Links- als auch Mitte-Rechts-Parteien gleichermaßen gemütlich gemacht haben. Grundsätzliche Unterschiede in den politischen Ansichten verringern sich. Der Vormarsch in eine progressive, „diverse“ Zukunft eint mittlerweile die meisten Parteien des demokratischen Spektrums.

Der linke Philosoph Alain Deneault hat unter dem angriffslustigen Titel ein zorniges Buch vorgelegt, das mit drastischen Worten die grassierende Armut an Vielfalt in der Politik beschreibt. Es spiele keine Rolle mehr, ob man sich „als sozialdemokratisch, sozialliberal, neoliberal oder christdemokratisch bezeichnet“, meint der Frankokanadier, solange „die Orthodoxie der extremen Mitte nicht angetastet“ werde. Die da laute: Intoleranter Konformismus bis zum bitteren Ende. Brav und mittelmäßig soll es sein, die „sinnlose Technokratie des Regierens“, spottet Deneault. Der Öffentlichkeit werde hierfür noch „ein Haufen unterschiedlicher Fetische angeboten“. Es stünden jedoch „keine Grundsätze mehr in Frage, sondern nur noch Symbole“.

Durch die öffentlichkeitswirksame Selbstverortung als „rationale, durchdachte und ausgewogene Position“ sei es der „extremen Mitte“ nach und nach gelungen, die eigene Politik als unumgänglich darzustellen, schreibt der 51jährige. In Deutschland wird meist noch das Attribut „bürgerlich“ hinzufügt, um den gemütlichen Wohlklang des „Normalsseins“ zu zementieren. In Wahrheit aber verfolge „dieser Diskurs und die Politik, die von ihm verteidigt wird, (…) eine extreme, gewalttätige und ungerechte Doktrin als notwendige und alternativlose Entscheidung zu verherrlichen, vor der keine historische Wirklichkeit die Augen verschließen kann“.

In vier Kapiteln folgen knallharte Abrechnungen mit der Habgier der Finanz- und Wirtschaftswelt, der sich alles unterzuordnen habe sowie wütende Anklagen über die Ökonomisierung der Universitäten und der Kunstszene. Gespickt wird das Ganze mit wunderbar schnippischen Passagen wie: „Der Habitus des Akademikers besteht darin, sich dominieren zu lassen. Da er sich in vollkommen desolater Lage befindet, scheint allein Geld seinen Praktiken Festigkeit zu verleihen.“ Nur: Den eigentlichen roten Faden seiner Entrüstung, der in der Einleitung angeprangert wird, verliert Deneault zunehmend aus den Augen. Kein Wunder, schließlich handelt es sich bei seinem Buch nur um eine Sammlung von bereits erschienenen Zeitschriften-Kolumnen.

Die ursprüngliche, französische Version des Textes erschien 2016, wobei die Berichterstattung über das Buch sich damals auf die Rolle Emmanuel Macrons konzentrierte, der die „extreme Mitte“ wohl wie kaum ein zweiter verkörpert. Doch auch für Deutschland verliert die Zustandsbeschreibung nichts an ihrer Richtigkeit. Die bis auf ihre Grundfesten entsolidarisierte und gespaltene Gesellschaft ist ein Produkt der mediokren Politik der Großen Koalition. Die Masseneinwanderung und ihre gewalttätigen Konsequenzen sind das Resultat von Entscheidungen eben jener Regierung. Auch die halsbrecherische Energiewende und ihre unabsehbaren Folgen entstammen dieser „extremen Mitte“. 

In der Konsequenz seiner Analyse liegt Deneault als linker Philosoph gerade in seinen ökonomischen Schimpfkanonaden jedoch daneben. Das Kapital ist in den vergangenen Jahren ja kein Bündnis mit reaktionären Kräften eingegangen, wie es durch das Buch raunt, sondern ganz im Gegenteil: Globale Unternehmen huldigen der kulturellen Linken, ergötzen sich an der Zurschaustellung von Diversität  und überbieten sich darin, Millionensummen an radikale Organisationen wie „Black Lives Matter“ zu spenden. Sie bilden als Symbiose die wahre und neue extreme Mitte, die eine immer grenzenlosere Kapitalakkumulation erst ermöglicht.

Wie aber will Deneault die von ihm angeprangerte Mittelmäßigkeit bekämpfen? Seine Losung ist schlicht und aggressiv: „Mit dieser neuen Ordnung brechen. Uns kollektiv befreien. Gemeinsam Schluß machen. Zusammenbrechen.“ Nun, als Linker läßt sich derartiges leicht sagen. Warum wohl? Die heutige Linke ergötzt sich in einer Art konformistischer Rebellion, die von der „extremen Mitte“ durch die Übernahme des Identitätsfanatismus leicht geschluckt werden kann. Der Liberalismus absorbiert schlußendlich auch seine Antipoden. Harmlos gewordene Schreihälse dürfen weiter schreien. Konservative jedoch werden für derartige Aussagen gnadenlos zensiert. Was wohl am Ende zeigt, wessen Widerstand gegen die „extreme Mitte“ tatsächlich wahrhaftiger ist.

Alain Deneault: Die Herrschaft der extremen Mitte. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2021, broschiert, 188 Seiten, 18 Euro