© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Das verlorene Paradies der Alten
Der Berner Historiker Stefan Rebenich hat eine grundlegende Darstellung über das wechselhafte Antikenbild der Deutschen in den letzten zwei Jahrhunderten verfaßt
Felix Dirsch

Im Jahr 1950 veröffentlichte der Schriftsteller Heinrich Böll die viel gelesene Kurzgeschichte „Wanderer kommst du nach Spa…“ Dieser Text leitete eine Abwendung von der bis dato üblichen Lesart des oft mißbrauchten Thermopylen-Epigramms ein. Die Erfahrungen des Literaten im nur einige Jahre zurückliegenden Weltkrieg ließen kaum einen anderen Umgang mit den fernen, aber gleichwohl nahen Ereignissen des Verteidigungskampfes der Spartaner gegen die Perser zu. Im Abstand von über siebzig Jahren kann man sogar sagen, daß das trostlose Fragment eine Kehre bezüglich der verbreiteten heroischen Begeisterung für oft kriegerische Antikenideale darstellt, die man in Bildungsinstitutionen über Generationen hinweg wahrnehmen konnte.

Daß der veränderte Blick auf die eigene Geschichte seit über fünf Jahrzehnten auch die Altertumswissenschaften betrifft, ist mehr als eine Binsenweisheit. Rebenich hat bereits etliche Publikationen zur Geschichte seiner akademischen Disziplin vorgelegt. Dem einst dominanten Bildungsbürgertum wurde eine bestimmte Sicht auf die antike Welt bereits auf dem humanistischen Gymnasium vermittelt. Diese Form der Erziehung geriet nach 1968 massiv in die Kritik. Es drängt sich im Zuge einer verschärften Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit die Frage auf, warum das pädagogische Leitbild eines idealen Menschentums den Absturz in die Bestialität nicht verhindern konnte. 

Rebenich findet den Schwerpunkt seiner Betrachtungen im universitären und institutionellen Bereich. Natürlich reicht die Rezeption der griechisch-römischen Überlieferung weit darüber hinaus. Als Beispiel ist an die romantische Griechenbegeisterung im frühen 19. Jahrhundert zu erinnern, ohne die herausragende Denkmäler wie die Walhalla im Landkreis Regensburg nie entstanden wären. Hinzuweisen ist weiter auf die Verarbeitung klassischen Gedankenguts in der Zusammenarbeit von Goethe und Schiller. Solche Strömungen sind jedoch im Detail zu komplex, um sie zwischen zwei Buchdeckeln abzuhandeln. Insofern liegt es nahe, daß Rebenich eine methodische Begrenzung seines Forschungsgegenstandes vornimmt.

Der Autor beginnt nach einer Einleitung über Gegenstand und Erkenntnisinteresse seines Nachdenkens mit der Beschreibung zweier für die Altertumswissenschaften zentraler Persönlichkeiten: Am Anfang der produktiven Aneignung der Alten stehen mit dem Archäologen und Kunstschriftsteller Johann Joachim Winckelmann sowie dem zwei Generationen jüngeren preußischen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt zwei Denker, ohne die der Weltruhm der deutschen Altertumswissenschaften nicht vorstellbar ist. Zweckfreie Vervollkommnung des Menschen durch differenzierte Nachahmung einer als paradigmatisch wahrgenommenen Kultur – so kann man deren zentrales Anliegen beschreiben.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erreichen die Altertumswissenschaften mit ihren diversen Nachbar- und Hilfsdisziplinen ihre Blütezeit. Neben dem Werk von Johann Gustav Droysen werden die vielfältigen und beileibe nicht nur akademischen Leistungen des berühmten Dreigestirns Theodor Mommsen (Wissenschaft vom römischen Altertum), Ulrich von Wilamowitz-Moel-lendorff (Klassische Philologie) und Adolf von Harnack (Geschichte der Alten Kirche) ausführlich gewürdigt. Ihre Zusammenarbeit, die nicht frei von Konflikten war, beeinflußte das gesamte Bildungswesen ihrer Zeit. Dies wird nicht zuletzt durch die Verbindungen zum mächtigen preußischen Kulturpolitiker Friedrich Althoff deutlich. Eine Reihe grundlegender Editionsvorhaben wie auch die Gründung maßgeblicher Wissenschaftseinrichtungen ist auf das Wirken Mommsens, Wilamowitz-Moellendorffs und Harnacks zurückzuführen. Doch auch andere exzellente Gelehrte dieses Zeitalters, wie der Ägyptologe Adolf Erman und der Philologe Eduard Schwarz, werden vorgestellt.

Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit thematisiert die Rolle bedeutender Vertreter des Fachbereichs im Dritten Reich sowie dessen Neustart nach 1945. Dem Verhalten führender Repräsentanten der Zunft wie Helmut Berve, aber auch jüngerer Wissenschaftler, etwa Hermann Bengtson und Alfred Heuss, geht der Autor über die dunklen Jahre hinaus akribisch nach. 

Am Ende der inspirierenden Studie wird die Frage aufgeworfen, wie man sich heute gegenüber der Antike adäquat verhalten könne. Ihr Erziehungsanspruch ist mittlerweile gering, erst recht kann sie keine bürgerliche „Erlösungshoffnung“ (Reinhart Koselleck) mehr wecken. Ganz ohne Bedeutung ist sie jedoch auch im frühen 21. Jahrhundert nicht. Friedrich Schlegel formulierte bleibend gültig, daß noch jedes Zeitalter „… in den Alten gefunden“ hat, was es brauchte, „vorzüglich sich selbst“. Um solche Inhalte für die Gegenwart zu beschreiben – dazu bedarf es wohl Rezepte der Aneignung jenseits einfacher Nachahmung wie ostentativer Anathematisierung. Rebenich hat wichtige Vorarbeiten für ein solches hermeneutisches Unterfangen vorgelegt.

Stefan Rebenich: Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2021, gebunden, 494 Seiten, 38 Euro