© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Es ist vollbracht
Magnus Brechtken sieht in der Formulierung universeller Menschenrechte die Geschichte an ihrem Ziel
Stefan Scheil

Der griechische Philosoph Platon definierte einst den Menschen als „nacktes Tier auf zwei Beinen“. Sein Widersacher Diogenes soll daraufhin ein gerupftes Huhn in die Runde geworfen und gesagt haben, das sei dann wohl Platons Mensch. „Was ist der Mensch?“, diese wuchtige Frage stellt eingangs auch Magnus Brechtken, seines Zeichens Vizedirektor des Instituts für Zeitgeschichte. Er präsentiert als Antwort, der Mensch könne „als einziges Wesen seine Instinkte kontrollieren, Werkzeuge nutzen und mittels Sprache kommunizieren“. Nun muß jedoch für die Einsicht kein Huhn gerupft werden, daß dies auch auf zahlreiche Tiere zutrifft.  

Der Mensch zeichnet sich dagegen durch das Begraben seiner Mitmenschen aus, also die Anerkennung von deren Würde auch nach dem Tod. Dies tun Tiere tatsächlich nicht. Und er hat ein Bild von dem, was früher einmal war, vor seiner Zeit. Der Mensch macht sich Gedanken, was vor seinem Leben war oder danach sein wird. Er hat daher ein Grundbedürfnis nach einem „Geschichtsbild“, das in der Menschheitsgeschichte immer vorhanden gewesen ist. Historiker Brechtken scheinen beide Gedanken fremd zu sein.

So beginnt ein Buch, das vor „Populisten“ warnt und in dem zugleich ein einnehmendes „wir“ im Dauereinsatz ist. Sicherheitshalber folgt oft ein abschließendes Ausrufezeichen, auf daß der Leser die Bedeutung seiner Sätze auch begreife. Mit „Mut zur Geschichte!“ beginnt Brechtken und mit „Setzen wir uns dafür ein, die Freiheit zu erhalten!“ endet er. Was der Leser dazwischen erhält, ist vor allem eine Apologie heutiger bundesrepublikanischer Verhältnisse. Die Bundesrepublik und die EU werden als Musterstaat und Ausblick dessen präsentiert, worauf die Weltgeschichte nach Brechtkens Meinung dereinst zulaufen soll: die Menschheit im Glück, als eine Ansammlung gottloser, sorgloser Konsumenten in „fair“ verteilten Vermögensverhältnissen, die sich für frei halten. Der Aspekt des Gottlosen ist Brechtken offenkundig wichtig. Religionen werden als „Erfindung“ gekennzeichnet. Sie sind für Brechtken Krücken von Minderbemittelten, die mit der angeblichen „Komplexität“ der Welt überfordert sind und deshalb ein übergeordnetes Regelwerk benötigen. 

„Lektionen“ mit Anspruch auf Regelsetzung sollen dagegen aus dem gezogen werden, was Brechtken für „die Geschichte“ hält. Die skizziert er als Siegeszug universeller Menschenrechte durch Aufklärung, amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Französische Revolution und Erklärung der Menschenrechte durch die Uno. Wer dabei unter die Räder kam, war selbst schuld. So weist Brechtken denn auch Differenzierungen zum Jahr 1914 zurück. Von „Schlafwandlern“ könne im Vorfeld des Weltkriegsausbruchs keine Rede sein, verantwortlich waren für ihn die „irrationalen“ Deutschen. Solch ergreifende Schlichtheit findet sich auch in anderen Passagen. Brechtkens „Mut zur Geschichte“ besteht dann in der Aufforderung, seine Traditionslinie für allgemein maßgebend zu halten. Andere Menschenbilder werden nicht geduldet. Wer die Menschenrechte westlicher Auffassung nicht für universell und andere Kulturen für gleichrangig halte, in denen sie nicht als bedeutend gelten oder, wie im islamischen Raum, direkt bestritten werden, der spreche anderen das Menschsein ab. So lautet Brechtkens Logik.

Nun mag man den Gedanken universeller Menschenrechte pflegen und für wünschenswert halten. Dennoch bleibt er ein ideologisches Produkt, dessen Rang sich aus der Weltgeschichte insgesamt nicht ableiten läßt. Er hat sich in neuerer Zeit durchgesetzt, so weit die staatliche Macht des Westens und vor allem der USA reichten. Deren ökonomisch motivierter Weltmachtanspruch fand hier eine paßgenaue ideologische Stütze. Da diese Basis schwindet, sind der Eifer und die Sorge Brechtkens um sein Weltbild nachvollziehbar. Mut zur Geschichte ist das aber gerade nicht.

Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart. Siedler Verlag, München 2021, gebunden, 304 Seiten, Abbildungen, 20 Euro