© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Krise ist immer
Der Soziologe Armin Nassehi zeigt, warum die systematische Überforderung der Gesellschaft gerade in Krisen nur das Unbehagen verstärkt – und rät zur Gelassenheit
Konrad Adam

Zwei Corona-Jahre haben den Menschen in aller Welt bisher unbekannte Einschränkungen und Entbehrungen abverlangt. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi hat das Beste daraus gemacht und die Zwangspause dazu genutzt, ein Buch über das Phänomen der Krise zu schreiben. Schon bei der Wahl des Titels hat er eine glückliche Hand bewiesen, indem er bei einem großen Vorläufer, bei Sigmund Freud, eine Anleihe machte und von Unbehagen sprach – Unbehagen allerdings nicht an einer Kultur, die den Menschen mit Schuldgefühlen belastet. Sondern Unbehagen an einer Gesellschaft, die viel verspricht und wenig hält. Die sich Aufgaben gegenübersieht, die sie überfordern. Die sich ihren Mitgliedern nicht mehr verständlich machen kann, weil sie Erwartungen weckt, die sie nicht erfüllt.

Als Hochschullehrer geht Nassehi einigen Fragen nach, die seine Studenten an ihn gerichtet haben. Sie fragten ihn, woher das Leid, das Unglück in die Welt kommt, und warum es den großen Kollektiven, die mal Gesellschaft, mal Menschheit heißen, nicht gelingt, trotz allen Wissens und Könnens dem Elend zu wehren: die alte Theodizee, in säkularisierter Form nun allerdings, denn seitdem Gott tot ist, wird nicht mehr ihm der Prozeß gemacht, sondern seinem Nachfolger, der Gesellschaft. Gesellschaftlich bedingt, gesellschaftlich zu lösen: das sind die Floskeln, mit denen sich unsere Berufspolitiker herausreden, wenn sie mit den Problemen nicht mehr fertig werden. Im Anschluß an die Franzosen nennt Nassehi das eine Soziodizee; von der er aber nicht viel hält, weil sie die Gesellschaft mit Ansprüchen belastet, die sie genauso überfordern wie seinerzeit den lieben Gott.

Krise, sagt er, ist das Normale, nicht der Ausnahmefall. Eine These, die den ursprünglichen Sinn des arg strapazierten Wortes zwar ins Gegenteil verkehrt, aber offenbar zutrifft, denn Krise – Corona-Krise, Klimakrise, Währungskrise, Flüchtlingskrise und so weiter – Krise ist immer. Nach einer Lösung zu suchen, ist aussichtslos und sollte, wie der Autor in Anlehnung an Niklas Luhmann durchblicken läßt, schon deshalb unterbleiben, weil es die unvermeidlichen Sachschäden durch vermeidbare Aufregungsschäden nur noch vergrößern würde. Statt dessen rät er, den Problemen dadurch ihre Bedeutung zu nehmen, daß man sie kurzerhand als Lösungen betrachtet.

Das klingt resignativ, fast zynisch, ist allerdings nicht so gemeint. Denn was Nassehi seinen Studenten und seinen Lesern empfiehlt, erinnert ja nicht zufällig an die halb ironische, halb ratlose Auskunft, auf die August Bebel verfiel, um seine auf Umsturz versessenen Parteigenossen im Zaum zu halten: „Es ginge“, soll er gesagt haben, „aber es geht nicht“. So ähnlich klingt es manchmal auch bei Nassehi. Leider verzichtet er nur selten auf die hochgestochene Sprache und das methodische Rüstzeug seines Faches, denn wenn er das tut, ist er am besten. Dann spricht er als ein gutgelaunter Fatalist, der den Leuten rät, die Welt so zu nehmen, wie sie nun einmal ist, den Zumutungen standzuhalten und sich mit der Schicksalhaftigkeit, der unvermeidlichen Kontingenz des Lebens, abzufinden – das jedenfalls ist die Antwort, die er zum Schluß auf die bekannte Frage gibt: Was tun? Mit dem Wort Kontingenz verweist er auf eine Dimension, die er zwar immerzu im Blick zu haben scheint, jedoch nur selten an- und niemals ausspricht, aufs Religiöse. Die Soziologie sei doch auch nur von dieser Welt, läßt er gelegentlich verlauten – ein Bekenntnis, dem viele seiner Kollegen wahrscheinlich lauthals widersprechen würden.

Nassehi spielt nicht den Guru, er hat keinen Masterplan, tut auch nicht so, als ob. Weder Familie noch Schule, nicht einmal die Gesellschaft will er neu erfinden. Der Forderung nach grenzenloser Aufklärung und lückenloser Transparenz begegnet er mit freundlicher Ironie und rät, sich dadurch zu entlasten, daß man nicht so genau hinsieht. Er setzt auf das, was sich von selbst versteht, also geschont werden sollte; nicht deshalb allerdings, weil es das Gute oder gar das Beste wäre – das glauben nur die Chinesen –, sondern weil die Kunst lang, das Leben aber kurz ist. Oder weil, marktwirtschaftlich gesprochen, Zeit Geld ist. Das scheint der Grund für seinen etwas rätselhaften Vorschlag zu sein, die Sozialdimension durch die Sachdimension zu ergänzen.

Er nennt das eine Evolution. Neben der sozialwissenschaftlichen kommt damit die naturwissenschaftliche Dimension ins Spiel, und die hat es in sich, denn Evolution ist rücksichtslos, genauso unbarmherzig wie ihre Mutter, die Natur. Sie geht ihren Weg, ohne danach zu fragen, was Fortschrittsapostel oder Menschenrechtsaktivisten dazu meinen, taub gegen Anregungen und Kommentare und unempfindlich gegen den Versuch, ihr auf die Sprünge zu helfen. Mit acht Milliarden Menschen wird sie nach ihren Regeln verfahren, nicht nach deren Wünschen. Und niemand wird ihr den Prozeß machen können, denn die Natur läßt sich genausowenig vor Gericht ziehen wie Gott oder die Gesellschaft.

Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft.  Verlag C.H. Beck, München 2021, gebunden, 384 Seiten, 26 Euro