© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Kritik des extremen Individualismus
Egoistischer Raubtierkapitalismus und tribalistische Identitätspolitik: Paul Collier und John Kay verkünden das Ende der Gier nach Geld und Anerkennung und erinnern an Aristoteles und Adam Smith
Ludwig Witzani

In einer der bekanntesten Szenen der jüngeren Filmgeschichte hält Michael Douglas als WallStreet-Händler Gordon Gekko eine Laudatio auf die Gier. „Die Gier ist gut“, verkündet der Finsterling auf einer Hauptversammlung, „die Gier ist gut, denn sie klärt die Dinge“. Diese Filmse-quenz galt lange Zeit als szenisches Konzentrat des neoliberalen Zeitalters, als das Credo eines Egomanen, der sich offen zu seinen Ellenbogen und zu seinem Ehrgeiz bekennt. Paul Collier und John Kay, die diese Szene in ihrem Buch „Das Ende der Gier“ ausdrücklich zitieren, aber sind anderer Meinung. Für sie ist die Gier nicht die Lösung, sondern das Problem. 

Für Paul Collier, bekannt geworden durch sein einwanderungskritisches Buch „Exodus. Wie wir Einwanderung neu regeln müssen“ (2013), und den Wirtschaftswissenschaftler John Kay befinden sich die westlichen Gesellschaften in einer tiefgreifenden Krise, die sie unter dem Oberbe-griff der „Gier“ subsummieren. Den Kern dieser Gier beschreiben sie wie folgt: „Den exzessiven finanziellen Forderungen von Managern und den Ansprüchen der Identitätspolitik, dem selbstge-fälligen Gehabe von Trump, Putin, Bolsonaro und Kim Jong-un und dem wachsenden Einfluß von Reality-TV-Stars und Influencer_innen ist ein zentrales Merkmal gemein: Es dreht sich immer alles um sie selbst.“ Es geht also nicht nur um die Gier nach Geld, sondern auch um die Gier nach Aner-kennung und Macht. Sodann ist diese Gier keine Frage von links oder rechts, sondern sie betrifft alle politischen Lager. Zwischen dem rechten Rabauken, der mit einem Büffelkopf durch das Kapitol läuft, und einem linken Aktivisten, der Denkmäler schändet, erkennen die Autoren keinen wirklichen Unterschied. Kapitol- und Denkmalstürmern, Klimaaktivisten und radikalen Feministinnen geht es in erster Linie um „Performance“, um die Gier nach authentischem Selbsterleben und moralischer Selbsterhöhung vor den Augen Gleichgesinnter.

Donnerwetter, denkt der Leser, man hatte  schon immer geahnt, daß mit den Klimahüpfern und „Extinction Rebellion“ etwas nicht stimmt, aber so klar hat noch niemand aus dem etablierten Wissenschaftsbetrieb den Kern der Dinge auf den Punkt gebracht. Egoistischer Raubtierkapitalismus und tribalistische Identitätspolitik gefährden beide die adoptive Kompromißfähigkeit demokratischer Gesellschaften. Die Gier nach theatralischer Anerkennung ist als Massenphänomen genauso toxisch wie die Gier nach Geld oder Macht. 

Aber auch der Staat in seiner gegenwärtigen Gestalt bekommt sein Fett weg, und das, obwohl er in der Perspektive der Autoren nichts weiter ist als ein kümmerlicher Leviathan, der seine Kernaufgaben – Wohlfahrt und Sicherheit – nur noch unzureichend erfüllt. Stattdessen arbeitet er sich an zwei Zielen ab, die das politische System in eine Sackgasse führen: der Steigerung des BIP als trügerischem Maßstab für die allgemeine Wohlfahrt und einem deklamatorischen „Weltenretterethos“, dessen praktische Konsequenzen die Gesellschaft weiter spalten. Weit entfernt von dem sinnfreien Bereicherungsnarrativ der „No Border“-Gruppen weisen sie darauf hin, daß zu starke und zu schnelle Zuwanderung das kostbarste Kapital gefährdet, das eine Gesellschaft besitzt: gegenseitige Vertrautheit und Solidarität. Linke Parteien, die diese Probleme – mit Ausnahme der dänischen Sozialdemokratie – konsequent ignorieren, unterliegen einem galoppierenden Wählerschwund.   

Im dritten Teil des Buches skizzieren Collier und Kay die Strukturen einer besser funktionierenden und humaneren Gesellschaft. Ihre Argumentation orientiert sich an der politi-schen Philosophie des Kommunitarismus, den die Autoren beschreiben wie ein Brevier des gesunden Menschenverstandes. In der Nachfolge von Aristoteles und Adam Smith bestimmen sie den  Menschen als ein soziales Wesen, das sich in der Kooperation mit anderen und im tugendhaften Leben erfüllt. Meinungsoffen, überschaubar und gesprächsbereit sollen die dezentralen zivilge-sellschaftlichen Netzwerke sein, aus denen sich die Gesellschaft wie aus unendlich vielen Modulen zusammensetzt. Politische Führer, die diese Netzwerke koordinieren und schützen, sind „prosozial“, „großzügig“, „kooperativ“, „bescheiden“ und „selbstironisch“, gewissermaßen eine Mischung aus Perikles und Augustus mit einem Schuß Thomas Gottschalk. Aus vielfach bezeugter Solidarität während der Corona-Pandemie schöpfen die Autoren schließlich die Hoffnung, daß der Mensch nicht nur „ein krummes Holz“ (Kant), sondern ein zum Gutsein befähigtes Wesen ist, wenn man ihm nur oft genug erzählt, daß ihm das Gutsein langfristig gut tun wird.  

So bleibt am Ende der Lektüre ein zwiespältiges Gefühl. Die Diagnose der Gesellschaft in den bei-den ersten Buchteilen ist mit großem Gewinn zu lesen. Die therapeutischen Vorschläge im dritten Teil aber haben etwas Naives, wenn man unter Naivität das verstehen will, was selbstverständlich ist, ohne daß sich die meisten daran halten. Insofern ähneln die Vorschläge der Autoren einer anspruchsvollen Sonntagspredigt, die die richtigen Ziele weist, ohne den Weg dorthin wirklich zu beschreiben. 

Paul Collier, John Kay: Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt – und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muß. Siedler Verlag, München 2021, gebunden, 288 Seiten, 24 Euro