© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Stark, schwierig und zerrissen
Von Atatürks Reformstaat bis zur Herrschaft Erdoğans: Der Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski hat eine Geschichte der Türkei von 1923 bis heute vorgelegt
Thomas Schäfer

Die Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti) wird am 29. Oktober 2023 den einhundertsten Jahrestag ihrer Gründung feiern. Es steht zu erwarten, daß aus selbigem Anlaß auch zahllose Veröffentlichungen über den Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches erscheinen. Insofern war der Verlag C. H. Beck gut beraten, jetzt schon eine „Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart“ herauszubringen. So ist dem Buch natürlich mehr Beachtung garantiert, als während der kommenden Publikationsflut rund um das Jubiläum. Allerdings stellt sich dabei die Frage nach der Berechtigung dieser Aufmerksamkeit.

Um es gleich vorwegzunehmen: Der deutsche Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski, welcher derzeit an der Universität Basel lehrt, hat eine solide Studie mit wissenschaftlichem Anspruch vorgelegt, wovon nicht zuletzt das 32seitige Literaturverzeichnis zeugt. Ebenso liefert er auch mehr als nur eine monotone Kompilation von Informationen über die Entwicklung der Türkei von einem kemalistischen Reformstaat hin zu dem heutigen neo-osmanisch und konservativ-islamisch ausgerichteten Zwitterwesen, zu dem das Land unter der Herrschaft von Recep Tayyip Erdoğan mutierte. Denn Reinkowski gründet seine Darstellung auf mehreren Prämissen wie: „Die Türkei ist ein starkes Land“, „Die Türkei ist ein schwieriges Land“ und „Die Türkei ist ein zerrissenes Land“. Dazu gehört nicht zuletzt, die geschichtlich prägende Rolle der Gegensätze zwischen dem säkularen und religiösen Lager sowie den eher fortschrittlichen städtischen Schichten und der traditionsverhafteten anatolischen Dorfbevölkerung zu thematisieren. Parallel hierzu zeigt Reinkowski in schlüssiger Weise auf, was es für die Türkei bedeutet, ein Land im sensiblen Übergangsbereich von Orient und Okzident zu sein, in dem auch keine ethnisch homogene Bevölkerung lebt.

Die Verdeutlichung der Komplexität der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Türkei seit 1923 hat allerdings ihre Tücken. Zwar tippt Reinkowski fast alles Wichtige an und stellt das Erwähnte dann auch recht souverän in einen Gesamtkontext, jedoch um den Preis der Vernachlässigung wesentlicher Details. Hierzu ein typisches Beispiel: Die Haltung der Türkei im Zweiten Weltkrieg wird in dem fast 500 Seiten starken Buch auf lediglich vier Seiten abgehandelt. Dabei erweckt Reinkowski den Eindruck, daß Ankara zu keinem Zeitpunkt die Absicht hatte, die „übermächtige“ Sowjetunion zu attackieren. 

Das freilich ist falsch, wie Jörg Hiltscher 2011 in seiner fundamentalen, auf einer Vielzahl von Quellen basierenden Studie „Die deutsch-türkischen Beziehungen 1940–42“ nachwies. Als die Wehrmacht im Sommer 1942 in den Kaukasus und Richtung Baku vordrang, beorderte der türkische Generalstabschef Fevzi Cakmak insgesamt 43 Divisionen mit 650.000 Mann an die sowjetische Grenze. Dies tat er in seiner Eigenschaft als Exponent pantürkistischer Kreise um den damaligen Ministerpräsidenten Refik Saydam, welche davon träumten, im Bündnis mit den siegreichen Achsenmächten Deutschland und Japan eigene Großmachtambitionen zu verwirklichen. Der Einmarsch in Georgien und Armenien, wo Stalin nur über 80.000 Soldaten verfügte, unterblieb lediglich deshalb, weil Saydam in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1942 einem höchst mysteriösen „Herzanfall“ erlag und der mit ihm auf einer Linie befindliche Innenminister und Geheimdienstchef Fikri Tüzer kurz darauf haargenau das gleiche Schicksal erlitt, woraufhin der anglophile Staatspräsident Ismet Inönü in der Lage war, die restlichen Pantürkisten im Kabinett kaltzustellen. Daß Reinkowski auf diese bedeutsamen Vorgänge mit keiner Silbe eingeht, resultiert wohl aus seiner Unkenntnis des Werkes von Hiltscher. Jedenfalls fehlt es im Literaturverzeichnis.

Dieses Exempel illustriert, warum man Übersichtsdarstellungen wie „Geschichte der Türkei“ grundsätzlich mit Vorsicht genießen sollte: Angesichts der schieren Masse an zu berücksichtigenden Fakten ist es nahezu unmöglich, Fehler wie den genannten zu vermeiden.

Maurus Reinkowski: Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2021, gebunden, 496 Seiten, 32 Euro

Foto: Postkarte mit Porträt von Mustafa Kemal Atatürk: Prägende Rolle der Gegensätze