© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/21 / 22. Oktober 2021

Unterdrückter Feiertag
Der 9. November von der Kaiserabdankung bis zum Mauerfall: Wolfgang Niess über den Schicksalstag der Deutschen und warum er nicht Nationalfeiertag wurde
Paul Leonhard

Ist der 9. November tatsächlich der Schicksalstag der Deutschen und soll er statt des 3. Oktober zum Nationalfeiertag bestimmt werden? Dieser Frage geht Wolfgang Niess in seinem aktuellen Buch nach. In 16 Kapiteln beschreibt der promovierte Historiker und langjährige SWR-Redakteur detailliert die Vor- und Nachgeschichte der jeweils in einen 9. November kulminierenden Ereignisse: 1918, 1923, 1938 und 1989, also Kaiserabdankung und Novemberrevolution, Hitler-Ludendorff-Putsch, Pogromnacht und Mauerfall. 

Wendepunkte für die deutsche Geschichte waren davon nur zwei. Die am 9. November 1918 von der Obersten Heeresleitung erzwungene Abdankung Kaiser Wilhelms II., die den Weg zu einem Waffenstillstand mit der Entente und einem fairen Friedensschluß, wie ihn der US-Präsident Woodrow Wilson versprochen hatte, ebnen sollte. Und die am 9. November 1989 erfolgte mißverständliche Presseerklärung eines SED-Funktionärs zur Reisefreiheit in der DDR, die Tausende Berliner veranlaßte, nachzuschauen, ob die Grenze tatsächlich offen war und so den „antifaschistischen Schutzwall“, der doch nach den Plänen der Einheitssozialisten noch hundert und mehr Jahre stehen sollte, zum Einsturz brachte und letztlich die Weichen für eine überraschend schnelle Wiedervereinigung stellte. Beide Revolutionen haben, wie Niess zu Recht konstatiert, „scheinbar Unbezwingbares in kürzester Zeit zum Einsturz gebracht“.

Zu den bis heutige gültigen Erfolgen der Novemberrevolution zählt übrigens jene am 15. November 1918 beschlossene Anerkennung der Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeitnehmer durch die Unternehmerverbände. Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen war „zum ersten Mal in der deutschen Geschichte der Gedanke der Sozialpartnerschaft in die Organisation des Wirtschaftslebens eingeführt, der heute die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung“ ist. 

Der 9. November 1923, der mißglückte Putschversuch der Münchner Nationalsozialisten blieb eher ein lokales Ereignis, das erst später, vor allem nach der NS-Machtergreifung Anfang 1933 von Adolf Hitler zum Heldentag umgeschrieben und erhöht wurde. Und der nach dem Untergang des Dritten Reiches allein in der Welt der Philatelisten überdauerte, denen die Reichspost mehrere prächtige Marken mit der markigen Aufschrift „Gedenkt des 9. Novembers 1923“, letztmalig 1944 zum 21. Jahrestag, bescherte hatte.

Letztlich schafften es beide Spielarten des Sozialismus, die Demokratie in Deutschland für lange Zeit auszulöschen. Den von den Nationalsozialisten aufgebauten Mythos des 9. November griffen die Kommunisten bereits im Herbst 1945 auf, wie ein Plakat zum Jahrestag der Novemberrevolution des KPD-Grafikers Heinz Völker zeigt: „Nie wieder 1918. Jetzt gilt’s. Zum 9. November 1945“. Dieses Datum war für das DDR-Geschichtsverständnis so wichtig, daß SED-Chef Walter Ulbricht von der Sprengung des verhaßten Hohenzollern-Schlosses in Berlin sogar jenes Portal ausnehmen ließ, von dem Spartakistenführer Karl Liebknecht die „sozialistische Republik“ ausgerufen hatte. Daß SPD-Co-Vorsitzender und Staatssekretär Philipp Scheidemann das bereits Stunden zuvor von einem Balkon des Reichstags getan hatte, wenn auch keine „sozialistische“, wurde glatt unterschlagen.

Mit Noverberrevolution – je nach Sichtweise ein siegreicher Arbeiteraufstand oder eine unvollendete bürgerliche Revolution – und Mauerfall, als augenfälligstes Ergebnis der friedlichen Massenproteste in der DDR, wäre der 9. November tatsächlich wie kein anderer Tag in der jüngeren deutschen Geschichte prädestiniert, zum Nationalfeiertag erhoben zu werden – gäbe es da nicht noch den 9. November 1938. Jene schändliche Nacht, in der auf Weisung des Reichspropagandaministers vor allem SA-Männer im ganzen Reich Synagogen anzündeten, jüdische Geschäfte zerstörten und jüdische Mitbürger mißhandelten – und viele Deutsche dem tatenlos zuschauten.

Als über die Wiedervereinigung verhandelt wurde, ging es auch um das geeignete Datum für einen Nationalfeiertag. Statt sich der wechselvollen Geschichte des 9. November zu stellen, versteckten sich die damals regierenden Politiker hinter der Aussage des Zentralrates der Juden: Der Tag der Reichspogromnacht könne nicht der nationale Feiertag sein. So wurde krampfhaft ein Tag gesucht, der in den Jahrhunderten deutscher Geschichte nie eine Rolle gespielt und als völlig unbelastet gelten konnte. Gefunden wurde der 3. Oktober, ein Nationalfeiertag, der wenig Emotionen weckt und über den sich bis heute keiner so richtig freuen kann.

Dabei war der 9. November schon einmal Feiertag. Auch daran erinnert Niess. In Sachsen, Thüringen, Anhalt und Braunschweig war er auf Initiative der dortigen Sozialdemokraten 1919 zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden (während das in der Nationalversammlung in Berlin dieselbe SPD aus taktischen Gründen verhinderte). Allerdings war in Deutschland niemand mehr stolz auf die Revolution, als im Mai 1919 die Friedensbedingungen bekannt wurden, aus denen letztlich „neuer Haß zwischen den Völkern und im Verlaufe der Geschichte neues Morden erwachsen“ sollte.

Neues vermag der Fernsehjournalist seinen Lesern kaum mitzuteilen. Allenfalls ein paar gewagte Theorien gab – so, daß das neue Reisegesetz der SED nicht auf Druck der Demonstranten verkündet wurde, sondern weil es aus Prag „zahlreiche Beschwerden über lange Trabi-Kolonnen, die die Straßen verstopften und die Luft verpesteten“. Insgesamt bietet das Buch daher weder keinen besonderen Lesegenuß noch Erkenntnisgewinn, dafür aber am Ende ein kräftiges AfD-Bashing und Vorschläge des Autors für den künftigen Umgang mit dem 9. November. 

Wolfgang Niess: Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag. Verlag C.H. Beck, München 2021, gebunden, 318 Seiten, 26 Euro