© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

60 Jahre Gastarbeiteranwerbung
Mythen mit Hintergrund
Matthias Bäkermann

Über die Migrationsgeschichte existieren allerlei Mythen. „Wir sind doch keine Gäste in einem Haus, das wir selbst mitgebaut haben“, behauptet etwa die Migrationslobbyistin Ferda Ataman, die zustimmend vom Bundespräsidenten beim Festakt zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei zitiert wurde. Derselbe Frank-Walter Steinmeier sieht auch das deutsche Wirtschaftswunder „maßgeblich von den Gastarbeitern getragen“, die „wir eingeladen haben“. Politiker der Grünen wie Claudia Roth insinuierten bereits 2004, daß „nach dem Zweiten Weltkrieg“ jene Arbeitseinwanderung „das Land mit aufgebaut“ hätte. 

Diese historischen Ungenauigkeiten verkennen wesentliche Fakten. Erstens kamen die Anwerbeabkommen meist auf Initiative der Herkunftsländer zustande oder waren, wie im Fall des Nato-Partners Türkei, sogar bündnispolitisch begründet. Zweitens war der Wiederaufbau aus den Trümmern von 1945 im wesentlichen abgeschlossen und die bereits hochtourig laufende Wirtschaft geriet bald nach 1961 ins Stocken. Danach dienten die oftmals hart schuftenden Türken der ersten Generation vielen bundesdeutschen Arbeitgebern vor allem als nützliche Lohndrücker im Niedriglohnsektor. 

Daß von einschlägigen Multiplikatoren dennoch die Erzählung einer „gemeinsamen gesellschaftlichen Aufbauleistung“ befördert wird, soll einen ganz anderen Mythos tradieren: die Gründung eines „Deutschlands mit Migrationshintergrund“, für das es laut Steinmeier „höchste Zeit ist, daß wir uns dazu bekennen“.