© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

„Wir müssen in die Offensive kommen“
Verfassungsschutz, Wahlschlappe, die AfD ist in der Krise: Warum ist ihr dennoch zum Erstaunen der Medien Hans Jürgen Wendel, Ex-Rektor der Universität Rostock, beigetreten? Der Philosoph sieht die Partei allerdings in existentieller Gefahr
Moritz Schwarz

Herr Professor Wendel, während die Medien immer wieder neue AfD-Aussteiger präsentieren, sind Sie unlängst in die Partei eingetreten. Warum? 

Hans Jürgen Wendel: Weil sie genau die Probleme zur Sprache bringt, die auch mich bewegen, und bei denen die etablierten Parteien keine Lösungen anbieten – ja, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, auch gar nicht anbieten wollen. 

Warum hat Ihr Beitritt überhaupt für ein Echo in den Landesmedien gesorgt?   

Wendel: Gute Frage, denn zum Vergleich: Als ich vor der Landtagswahl 2006, wegen der völlig verfehlten Hochschulpolitik der rot-roten Landesregierung in die CDU eintrat, wurde das öffentlich so gut wie nicht wahrgenommen. Obwohl ich wegen meines kritischen Eintretens für die Hochschulen als Person damals durchaus medial präsent war. Daß mein AfD-Beitritt dagegen sehr wohl Beachtung fand, obwohl ich mich in den letzten Jahren politisch gar nicht betätigt habe, hat natürlich damit zu tun, daß jemand, der eine wichtige, respektable Position in der Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des Landes eingenommen hat, und an dessen Auftreten gegen die damalige zerstörerische Hochschulpolitik man sich hierzulande noch erinnert, von vielen als Provokation angesehen wird. Und wenn ich überlege – eigentlich war es auch so gedacht.

Inzwischen wird die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet, was Bürgerliche eigentlich eher abschreckt. 

Wendel: Gerade dieser Versuch, eine kritische Stimme und unbequeme politische Konkurrenz in den Augen der Öffentlichkeit an den rechten Rand, ja bis in die Nähe des Verfassungsfeindlichen zu drängen, hat für mich den Ausschlag gegeben.

In der üblichen Darstellung gilt die AfD als von einer „bürgerlichen Professorenpartei“ in eine „völkische Truppe“ verwandelt. Sie widersprechen? 

Wendel: Ja, ich sehe eher eine Entwicklung, die mit neuen Themen und Problemen zu tun hat – die aber einen inneren Zusammenhang haben. 

Inwiefern? 

Wendel: Bei Gründung der AfD ging es um die sich abzeichnende Umwandlung der EU in eine Schuldenunion zu Lasten der Deutschen, wie sie nun in der Corona-Krise vollendet wurde. Besonders wurde deutlich, daß sich die EZB von einer Hüterin der Stabilität nach dem Vorbild der Bundesbank zu einer Finanzierungsagentur schlecht wirtschaftender Staaten wandelte. Dabei wurden die geldpolitischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nicht nur von den Regierungsparteien, sondern auch von der Opposition preisgegeben, woran nun ja auch Jens Weidmann endgültig verzweifelt ist. Mit der rechtswidrigen Grenzöffnung 2015 und dem Ansturm, der von Frau Merkel herbeigerufenen Einwanderer entstand ein anderes Problem, das seitdem, durch einen Asylzuzug von pro Jahr 120.000 bis 220.000 Personen – also vom Umfang einer Großstadt –, ungebrochen wächst. Es begannen sich nämlich neue, parallele Gesellschaftsstrukturen zu bilden, vorwiegend bestehend aus jungen Männern mit aus unserer Sicht mittelalterlich-fremdem Weltbild, die unsere Kultur verachten und das Sozialsystem bis an die Grenze belasten, während Sozialleistungen für bedürftige deutsche Mitbürger schrumpfen.

Aber worin besteht der „innere Zusammenhang“, von dem Sie in Ihrer Antwort zuvor sprachen?

Wendel: Darin, daß die AfD die Auffassung repräsentiert, die Regierung habe in erster Linie die Interessen der Deutschen zu vertreten, statt zum Wohlfahrtsamt der Welt zu werden. Ich sehe darin nichts „Völkisches“, sondern lediglich das in Erinnerungrufen der originären Aufgabe einer vom Volk gewählten Regierung. Das gleiche gilt für die Klimapolitik. Als Verursacher von gerade einmal 1,8 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes werden wir das Weltklima nicht retten, auch wenn wir es in dessen Namen schaffen sollten, unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand zu ruinieren – was ich mit Blick auf die Pläne der Ampel immer mehr fürchte. Es ist nicht Aufgabe der deutschen Regierung, auf unser aller Kosten vor der Welt als Vorbild dazustehen – und so unfreiwillig zu demonstrieren, daß die Welt wieder einmal am deutschen Wesen genesen soll. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, sich hierzulande auf die Folgen des Klimawandels einzustellen und Maßnahmen zu ergreifen, ihnen zu begegnen. 

Ohne das mit der Mär, die AfD sei „antidemokratisch“ zu verbinden: Die Partei hat sich stark verändert, Bürgerliche sind zum Teil von sich aus gegangen, zum Teil wurden sie aus der Partei gedrängt. Selbst Jörg Meuthen wirft das Handtuch. Welche Chancen sehen Sie noch für bürgerliche Politik in der AfD? 

Wendel: Da frage ich erstmal: Was heißt in diesem Zusammenhang „bürgerlich“? Denn es ist in der Politik ein schwammiger, umstrittener Begriff. Früher wurde von der CDU das „bürgerliche Lager“ dem linken Lager gegenübergestellt; oft wird bürgerlich auch gleichbedeutend mit „konservativ“ gebraucht. Man sagte wohl in erster Linie deshalb bürgerliches Lager, weil man „rechtes Lager“ angesichts der belasteten deutschen Vergangenheit und der Konnotationen von „rechts“ als „rechtsradikal“ oder gar „rechtsextrem“ vermeiden will. Eigentlich aber ist rechts, und nicht bürgerlich, der angemessene begriffliche Gegenpol zu links. In diesem Sinne ist bürgerliche Politik rechte Politik, nämlich eine, die den Bürgern dient. Und die Bürger sind die, die in einer Gesellschaft, Wirtschaft und gemeinsamen Kultur verwurzelt sind, diese erhalten und entwickeln. Das Phänomen, das Sie als Verdrängung der Bürgerlichen aus der Partei ansprechen, scheint mir dagegen etwas anderes zu sein. 

Nämlich? 

Wendel: Mit Einzug in die Parlamente haben viele in der AfD erkannt, daß man mit Politik Geld verdienen kann. Und zwar viel mehr Geld, an das zudem leichter zu kommen ist, als wenn man sich beruflich bewähren muß. Und so tummeln sich in der Partei mittlerweile zuhauf Glücksritter und Goldgräber, die auch politische Mandate besetzen. Gut vernetzt sichern sie sich Listenplätze und ein Auskommen, von dem sie sonst nur träumen könnten. Leistungsträger und politisch engagierte Personen werden dadurch verdrängt und ja, wenn sie solche für die Partei schädlichen Mißstände öffentlich anprangern, auch hinausgedrängt. So muß ich es jedenfalls in unserem Landesverband beobachten. 

Wie lautete also Ihre Antwort auf die Frage nach den Chancen für bürgerliche Politik in der AfD?

Wendel: Bürgerliche Politik in der AfD kann es ergo nicht sein, so zu tun, als wolle man die CDU früherer Jahre als CDU 2.0 neu erschaffen, sondern dazu beizutragen, daß sich die AfD konsequent an ihrer programmatischen Grundlage orientiert. Nämlich Politik im Interesse der Deutschen zu machen und sich von all denen zu trennen, denen es im Grunde um nichts anderes geht als ihr Eigeninteresse. Eine Chance für solch bürgerliche Politik besteht dann, wenn die Basisdemokratie funktioniert, also die breite Mitgliederschaft sich aktiv in der Partei engagiert. 

Die AfD hat also nicht, wie die Medien darstellen, ein Problem mit Extremisten, sondern mit Karrieristen?

Wendel: Extremistische Vorfälle sind ein großes Ärgernis zum Schaden der Partei, aber auch Einzelfälle. Das Bild als Extremistenpartei wird vielmehr von den durch die Konkurrenz aufgeschreckten etablierten Politik und ihren medialen Helfern inszeniert, um die Leute von der AfD abzuschrecken. Jüngstes Beispiel, man könne im Bundestag nicht länger neben ihr sitzen. Aber dieses Spiel ist durchsichtig, und schreckt es nicht mehr ab, sondern es schreckt und weckt auf – etwas dagegen zu tun und auch anderen die Augen für diese Masche zu öffnen. 

Prinzipiell haben Sie recht. Doch bei der großen Mehrheit der Deutschen funktioniert das „Augen öffnen“ nicht, wie eine aktuelle Insa-Analyse zeigt, laut der siebzig Prozent die AfD strikt ablehnen. 

Wendel: Es stimmt, darüber aufzuklären ist angesichts der zunehmenden Einschränkung der Meinungsfreiheit schwer geworden. Nicht ohne Grund wird mehr und mehr versucht, unbequeme Kritik als „Hetze“ zu diffamieren und die Freiheit insbesondere im Internet, wo sie schwerer zu kontrollieren ist, immer mehr einzuschränken. „Staatsfeindliche Hetze“ war nicht von ungefähr ein Straftatbestand in beiden deutschen Diktaturen.

Wohin führt das unsere Gesellschaft? 

Wendel: Leider habe ich da eine pessimistische Sicht: Denn betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahre, so hat man nicht mehr den Eindruck, unsere Gesellschaft sei „nur“ dekadent, sondern eher den, sie befinde sich bereits im freien Fall. Ich sehe Staat und Gesellschaft zerfallen, während die meisten Bürger dabei fast tatenlos zusehen!  

Was schlagen Sie vor?

Wendel: Jedenfalls keine konservative Politik, denn was gibt es angesichts dieses Zustandes zu konservieren? Es bedarf eher einer grundlegenden Erneuerung. Daß diese Notwendigkeit in der Gesellschaft aber nicht oder kaum gesehen wird, hat damit zu tun, daß in allen etablierten Parteien und den meisten Medien ein links-grünes Gesellschaftsbild zur Rettung der Menschheit gepriesen wird. Zudem werden in unserem postdemokratischen Zeitalter zwar weiter Wahlen abgehalten, aber die Wahlkämpfe sind thematisch so eingeschränkt, daß die wirklich wichtigen Themen außen vor bleiben. Während gleichzeitig global agierende Unternehmen und Eliten, die etwa in Davos laut darüber nachdenken, wie die Welt zu verbessern sei, immer mehr Einfluß auf die Regierungen nehmen – mehr als die eigenen Staatsbürger! 

Stehen „Antirassismus“, Wokeness, Gender, Cancel Culture oder Fridays for Future damit in Zusammenhang?

Wendel: Diese Dinge sind Ausdruck eines Kulturkampfes, ja einer Kulturrevolution in der man meint, gegen dunkle Mächte um die Welt zu kämpfen. Und so wie die historischen Wiedertäufer den Weg zur Heilsgewißheit durch die radikale Nachfolge Christi weisen wollten, in dessen Namen sie ein theokratisches Terrorregime errichteten oder wie in der marxistischen Heilslehre der Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats vor dem irdischen Paradies angesagt waren, tritt nun an Stelle von Theokratie oder Klassenkampf zunächst der Geschlechterkampf, dann der Kampf gegen einen inflationär verstandenen „Rassismus“ sowie der Klimakampf. 

Die Klimabewegung erinnert Sie an die Wiedertäufer?

Wendel: Gerade sie! Wer nicht der heiligen Gretel oder ihrer Statthalterin Luisa zum Freitagsgebet folgt und auf die Bibel der „Pariser Erklärung“ schwört, ebnet den Weg zum Weltuntergang. Auch diese Bewegung prophezeit ein irdisches Paradies, wenn erst die dunklen Mächte, etwa die kapitalistische Konsumwelt, besiegt und ein neuer „antirassistischer“ Mensch die Geschicke leitet. Wobei dieses heroische Ziel auch eine Ökodiktatur und ideologische Umerziehung ungeahnten Ausmaßes rechtfertigt. Die dunklen Mächte, die die Welt an den klimatischen Abgrund bringen, sind nicht einfach die anonymen Kräfte einer kapitalistischen Produktionsweise, gegen die sich der Marxismus noch gewendet hat, sondern umfassen jetzt mehr: Die Wurzel allen Übels wird in der unterdrückerischen europäischen Kultur, im Patriarchat und seinem überall lauernden Rassismus gesehen. Jahrhunderte und Jahrtausende alte Kulturleistungen werden leichtfertig allein schon deshalb als rassistisch gebrandmarkt, weil sie einer bestimmten Gruppe zugeschrieben werden und versteckte Machtverhältnisse ausdrücken würden. Mit der angeblich männlich geprägten Sprache etwa, heißt es, würden Frauen sprachlos gemacht. Ja, man schreckt nicht einmal vor der Absurdität zurück, die Notenschrift in der Musik, die rein logische Mathematik und die nüchternen Naturwissenschaften als Ausdruck der dunklen, reaktionären Macht des weißen Mannes zu sehen, oder, wie die Vorsitzende der Grünen Jugend sagte, der „ekligen weißen Mehrheitsgesellschaft“. 

Wieso hat die AfD am 26. September bei Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch bei der Bundestagswahl so verloren, und wie kommt sie aus ihrem Zehn-Prozent-Oppositionsghetto, um gegen all das, was Sie da beschreiben, Politik zu machen? 

Wendel: Wie gesagt, soweit ich Einblick habe, ist man in der Partei meist mehr darauf bedacht, willfährige Leute des eigenen Lagers intern voranzubringen, anstatt der Besten, die es verstehen, Wähler anzusprechen und von uns zu überzeugen – selbst wenn das massive Verluste bei Wahlen bedeutet! Dies anzuprangern ist unerwünscht, und wer es tut, läuft Gefahr, deshalb seine Mitgliedsrechte zu verlieren. Ich bin aber überzeugt, daß die AfD sehr schnell in die Offensive kommen wird, wenn wieder politische Inhalte und die Debatte um die beste politische Strategie den Diskurs in der Partei bestimmen, statt interne Kämpfe um mehr Macht, Einfluß und Geld. Ob das möglich ist, hängt allerdings auch davon ab, wie weit sich der bisher nicht aktive Teil der Basis einmischt und es so zu einer personellen Erneuerung kommt. Dann muß es uns noch gelingen, glaubhaft zu vermitteln, daß wir die Partei sind, die sich den Amtseid des Bundeskanzlers zu eigen macht – nämlich seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden“. Auch wenn wir zumindest auf absehbare Zeit nicht den Kanzler stellen werden.






Prof. Dr. Hans Jürgen Wendel, der 2018 emeritierte Philosoph und Sozialwissenschaftler war von 2002 bis 2006 Rektor der Universität Rostock. Zuvor lehrte an der Kieler Christian-Albrechts- und der Berliner Humboldt-Universität. Seit 2006 CDU-Mitglied, verließ er die Partei 2016 und trat 2020 in die AfD ein, machte dies aber erst in diesem Jahr öffentlich. Geboren wurde Hans Jürgen Wendel 1953 in Ludwigshafen am Rhein.

Foto: Politisches Korrektiv: „Es ist die originäre Aufgabe einer vom Volk gewählten Regierung, die Interessen der Deutschen zu vertreten – und nicht auf Kosten ihrer Bürger vor der Welt als Vorbild dazustehen. Diese Auffassung repräsentiert die AfD“