© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Umstrittene Hoffnungsträger
Beben in der Union: In der CDU/CSU wird um einen Neuanfang gerungen – mit ungewissem Ausgang
Hinrich Rohbohm

Der Kampf um die Deutungshoheit innerhalb der Union ist eröffnet. In wenigen Wochen wird Angela Merkel als Bundeskanzlerin endgültig abtreten. Zurück läßt sie eine CDU, die sich sowohl personell als auch inhaltlich und organisatorisch in einem katastrophalen Zustand befindet. Nach 16 Jahren Angela Merkel kassierte die Union ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis aller Zeiten.

Sowohl Annegret-Kramp-Karrenbauer als auch Armin Laschet waren Merkels Wunschkandidaten für den Parteivorsitz, um ihren alten Kontrahenten Friedrich Merz zu verhindern. Beide scheiterten kläglich. Nach ihrem Abgang als Parteivorsitzende 2018 war Merkel zudem nicht bereit, auf die Kanzlerschaft zu verzichten, um einem Nachfolger die Möglichkeit zu eröffnen, die Union zu erneuern. Auch einer Umstellung im Kabinett verweigerte sie sich. Statt Reformen kam Reformstau. In der Demographie. In der Digitalisierung. Im Ausbau der Infrastruktur.

Während parteipolitisch bereits anhand der Wahlergebnisse der Zustand der Union offensichtlich wird, kündigen sich die hinterlassenen Schäden in Deutschland und Europa erst an. Etwa in der Energiekrise, deren Ausmaß nun anhand steigender Preise und des kopflosen Ausstieges aus der Kernenergie deutlich wird. Oder in der demographischen Situation, die nun anhand einer vor dem Kollaps stehenden Rentenkasse zusehends dramatischere Züge annimmt. Hinzu kommen eine nie bewältigte Migrations- und Schuldenkrise und eine zugunsten einer aufgeblähten Sozialindustrie kaputtgesparte Bundeswehr, die ihre originären Aufgaben faktisch nicht mehr erfüllen kann.

Im CDU-Präsidium will kaum jemand seinen Platz räumen

„Wir müssen das jetzt lückenlos aufarbeiten. Jetzt muß alles auf den Tisch“, sagen der JF gleich eine ganze Reihe an CDU-Funktionären quer durch die Landesverbände. Es ist ein Beben, das die gesamte Union gerade erfaßt, von dem derzeit noch nicht absehbar ist, welche Auswirkungen es auf CDU und CSU für die Zukunft haben wird. Die bayerische Schwesterpartei konnte zwar im Gegensatz zur CDU ihre Anzahl der Bundestagsmandate weitgehend halten. Doch auch dort hat die Kritik an Markus Söder und seinem zur Schau gestellten Annäherungskurs an die Grünen und Angela Merkel deutlich zugenommen. Besonders in der Jungen Union ist die anfängliche Euphorie bezüglich des bayerischen Ministerpräsidenten einer Ernüchterung gewichen. Vor allem sein „Kneifen“ auf dem JU-Deutschlandtag – so empfanden es zahlreiche Delegierte – kam nicht sonderlich gut an.

„Markus Söder war für mich der ideale Kanzlerkandidat, hart bei der Migration, fortschrittlich beim Klima. Aber inzwischen habe ich bei seinen Selbstinszenierungen und Störmanövern während des Wahlkampfes Zweifel bekommen“, bringt es ein bayerischer JU-Delegierter gegenüber der JF auf den Punkt.

Doch auch die anderen Hoffnungsträger, die in einer zukünftigen Neuaufstellung der Union eine bedeutende Rolle spielen könnten, sind nicht unumstritten. Friedrich Merz? „Guter Mann, aber schon zu alt und zu polarisierend“, heißt es da etwa beim Unionsnachwuchs. Jens Spahn? „Einer der jungen Generation mit Machtinstinkt, aber zu karrieristisch und opportunistisch unterwegs“, lautet die Kritik an seiner Person. Carsten Linnemann? „Wäre der Richtige. Aber ihm fehlt der unbedingte Machtwille, er wird stets zugunsten Spahns zurückziehen“, heißt es da. Norbert Röttgen? „Kommt in den Medien gut rüber, sonst aber eher grün als schwarz, zu arrogant und zu intrigant“, kommen die Vorbehalte zu seiner Person. Nicht vergessen ist auch dessen Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, bei der die Wähler ihn mit dem schlechtesten Ergebnis in der CDU-Geschichte abgestraft hatten.

Bliebe noch Ralph Brinkhaus. Kurz nach seinem Amtsantritt als CDU/CSU-Fraktionschef hatte er im Oktober 2018 eine mitreißende Rede auf dem JU-Deutschlandtag in Kiel gehalten. Diesmal jedoch vergaloppierte er sich, als er der Ampel-Koalition „die strammste Linksagenda, die wir seit Jahrzehnten in Deutschland gehabt haben“, vorwarf. „Die These, daß mit Christian Lindner der Sozialismus in Deutschland ausbricht, ist zu plump“, kritisierte ihn prompt ein Delegierter, der dafür starken Applaus erhielt.

Sollten sich die allesamt aus Nordrhein-Westfalen stammenden Protagonisten nicht einigen können, wäre auch noch eine andere Lösung denkbar. So basteln die anderen größeren Landesverbände wie Baden-Württemberg, Hessen und Nieder-sachsen bereits im stillen an einer Kompromißlösung: eine Doppelspitze mit der Oldenburgerin und CDU-Vizechefin Silvia Breher, die, unterstützt von der Frauen Union, sich auch gleich selbst ins Spiel bringt und ihre Bereitschaft verkündete, für neue Führungsämter bereitzustehen. Als ihr Co-Chef wird der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer gehandelt.

Ein Modell, das jedoch besonders beim konservativen Flügel auf wenig Gegenliebe stößt. „Das wäre ein Weiter-so, nur mit neuen Köpfen. Da sind die nächsten Wahlniederlagen schon abzusehen“, unkt man nicht nur in Nordrhein-Westfalen. „Wenn wir jetzt auch noch mit diesem Doppelspitzen-Schwachsinn anfangen, vergraulen wir noch mehr Stammwähler“, sagen sogar CDU-Funktionäre aus Brehers Landesverband Niedersachsen.

Auf der anderen Seite macht das bisher amtierende und maßgeblich für das Wahldesaster verantwortliche CDU-Präsidium wenig Anstalten, den Platz für jüngere Köpfe freizugeben. Weder von Schäuble-Schwiegersohn Thomas Strobl noch vom mittlerweile 69jährigen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sind entsprechende Verlautbarungen zu hören. Gleiches gilt für Julia Klöckner, die jedoch zumindest in Rheinland-Pfalz den Weg für einen Neuanfang freimachen will.

Neben dem Chef der CDU-Landtagsfraktion, Christian Baldauf, wird dort der 40 Jahre alte Jan Metzler als Kandidat für den neuen CDU-Landesvorsitzenden gehandelt. Beide gelten als konservativ, wollen die Erneuerung der Union. Ebenso für einen Neuanfang steht der baden-württembergische CDU-Fraktionschef Manuel Hagel. Er wird als möglicher Nachfolger für Thomas Strobl gehandelt, dessen Ablösung eine Frage der Zeit sein dürfte. Mit dem Hamburger CDU-Chef Christoph Ploß steht ein weiterer konservativer Politiker für einen Neubeginn bereit, der zunehmend an Profil gewinnt. Hinzu kommen der neue CDU-Landeschef und designierte Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, sowie der frisch in den Bundestag eingezogene JU-Chef Tilman Kuban. Beide gehören ebenfalls zum konservativen Flügel der Partei. „Die Merkelianer werden nicht kampflos von der Bühne abtreten“, ist man sich bei der JU sicher. So zeichne sich einmal mehr eine „Verklärung der Verhältnisse“ durch Weggefährten der Kanzlerin ab. Legenden werden gesponnen, Wahlergebnisse uminterpretiert. Die Botschaft: Angela Merkel habe das Land alles in allem 16 Jahre lang gut regiert, das Land ordentlich durch die Krisen geschifft und der Union Wahlerfolge beschert.

Wahlerfolge? Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Während der 16 Jahre andauernden Kanzlerschaft Merkels kassierte die Union bei 63 Landtags-, Bundestags- und Europawahlen 48 Wahlniederlagen, zahlreiche davon mit prozentualen Verlusten im zweistelligen Bereich. Neun Wahlen konnten mit geringen Zuwächsen von weniger als 2,5 Prozentpunkten gewonnen werden, bedeuteten in absoluten Zahlen jedoch ebenfalls einen Stimmenverlust. Lediglich bei sechs der 63 Wahlen war die Union siegreich.

Es droht der Verlust von weiteren Ministerpräsidenten-Posten

Noch deutlicher tritt der verheerende Bedeutungsverlust zutage, wenn man die jeweils letzten Landtags-, Bundestags-, und Europawahlen unmittelbar vor und zum Ende der Kanzlerschaft Merkels miteinander vergleicht. Keine einzige Wahl davon kann einen Zugewinn verbuchen. Dabei habe die Kanzlerin die Union doch angeblich „modernisiert“ und für „neue Wählerschichten geöffnet“. 

Gut möglich, daß nach dem Verlust der Machtmaschine Kanzleramt auch Merkels Bilanz für Deutschland und Europa neu bewertet werden muß. „Für die Union ist das ein tektonisches Beben. Die Frau hat in unserer Partei nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Das wird noch Jahre dauern, bis wir wieder auf die Füße kommen“, prognostiziert jedenfalls ein merkelkritischer JU-Delegierter der JF am Rande des Deutschlandtages in Münster. Ein Beben, das noch weitere Nachbeben beinhalten könnte: Im nächsten Jahr stehen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und im Saarland Landtagswahlen an. Stand jetzt würde die Union wohl in allen drei Ländern ihren Ministerpräsidenten verlieren.

Foto: Ralph Brinkhaus und Carsten Linnemann: Welcher Kandidat steht für einen Neubeginn?