© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Der Druck nimmt zu
Migration: Die illegale Einwanderung über Polen setzt sich fort / Seehofer will mit Nachbarland zusammenarbeiten
Paul Leonhard/ Christian Vollradt / Björn Harms

In den Bundesländern Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hält der Zustrom an Migranten aus dem Nachbarland Polen weiter an. Täglich wächst die Zahl der Personen, die über Weißrußland und Polen illegal nach Deutschland einreisen. Laut der Bundespolizei sind allein vom 1. bis 20. Oktober im brandenburgischen Grenzabschnitt 1.922 unerlaubte Einreisen mit einem Bezug zu Weißrußland registriert worden. In Mecklenburg-Vorpommern lag die Zahl im Zeitraum August bis einschließlich 20. Oktober bei 939 unerlaubt eingereisten Migranten. Zudem nahmen die sächsischen Bundespolizeiinspektionen Ludwigsdorf und Ebersbach vom 1. bis 20. Oktober insgesamt 982 Personen in Gewahrsam. Unterdessen griffen Beamte in der Nacht zum Sonntag auch rund 50 Rechtsextremisten des III. Wegs bei Guben in der Niederlausitz auf, die sich dort zu einem „Grenzgang“ an der Neiße verabredet hatten. Die Partei rief am Montag zu weiteren Spaziergängen auf, „um die Lage zu beobachten und Druck auf die zuständigen Behörden auszuüben“. 

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sprach noch am Sonntag in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ davon, „diesen Rechtsextremen klare Kante zu zeigen“. Es brauche finanzielle Unterstützung für den EU-Grenzschutz, dennoch sei klar: „Wir sind ein christlich geprägtes Land. Wer als Flüchtling hierher kommt, und hat er noch so wenig Rechtsanspruch in Deutschland zu bleiben, wird hier anständig behandelt.“

Mutmaßlich zum letzten Mal in seiner Funktion als Bundesinnenminister trat auch Horst Seehofer (CSU) am vergangenen Mittwoch vor die Hauptstadtpresse, um auf Fragen zur Problematik an der deutsch-polnischen Grenze zu antworten. Das Kabinett – jetzt nur noch geschäftsführend im Amt – hatte sich in seiner Sitzung mit der aktuellen Migrationslage befaßt. Dabei ging es zum einen um den Zustrom von illegal über Weißrußland in die Europäische Union Einreisenden, zum anderen aber auch um die Ankunft weiterer Afghanen, darunter sogenannte Ortskräfte sowie deren Angehörige. Und, darauf legte Seehofer ein besonderes Gewicht: die sogenannte Sekundärmigration, vor allem aus Griechenland. 

Griechenland nimmt fast keinen Asylbewerber wieder zurück

Sein Vorwurf Richtung Athen: Dort erkenne man viele Asylbewerber einfach an und lasse sie dann Richtung Deutschland weiterziehen. Freizügigkeit dürfe aber nicht bedeuten, „daß ich dann in einem anderen europäischen Land erneut einen Asylantrag stellen kann“, schimpfte der CSU-Minister. „Mehr als ein Drittel der Asylgesuche in Deutschland sind auf Fälle zurückzuführen, die in Griechenland als Asylbewerber anerkannt sind und nach Deutschland weiterreisen.“ Das entspreche 34.000 Personen. 

Und nur in einem einzigen Fall habe Griechenland einen Asylbewerber als zuständiges EU-Land zurückgenommen – bei mehr als 7.100 Übernahmeersuchen aus Deutschland. „Das kann nicht so bleiben“, forderte Seehofer. Man prüfe daher die Möglichkeit, Grenzkontrollen für Flüge vom Peloponnes einzuführen, sollte sich Griechenland gegen ein gemeinsames Abkommen sperren. Darin hatte Seehofer Athen sogar 50 Millionen Euro finanzielle Unterstützung für Asylbewerber zugesagt. 

Afghanistan rangiere mittlerweile an zweiter Stelle der Hauptherkunftsländer. Zunehmend kämen auch Personen nach Deutschland, die von anderen Staaten ausgeflogen wurden. Selbst wenn, so Seehofer, die humanitäre Verantwortung den ehemaligen Ortskräften gegenüber unbestritten sei, erwachse dadurch „ein erheblicher Integrationsbedarf“, da diese Leute „aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen“.

Laut Bundesinnenministerium wurden dieses Jahr bereits über 6.600 Migranten, die über Weißrußland kamen, an der deutsch-polnischen Grenze erfaßt. Kamen üblicherweise 200 Personen pro Tag, so seien es am 18. Oktober erstmals 925 gewesen. Zwar sei wegen dieser Zahlen und auch wegen des Vorgehens der polnischen Behörden ein Vergleich zur Situation im Jahr 2015 unzulässig, dennoch mahnte Seehofer: Werde diese Krise nicht bewältigt, drohe ein „dynamisches Wachstum“. 

Weißrußland warf der Minister „staatlich organisierte oder zumindest unterstützte Schleusertätigkeit“ vor. Minsk biete mehr und mehr Ländern die visumfreie Einreise an. „Das ist eine Form der hybriden Bedrohung, indem man Migranten als politische Waffe einsetzt“, sagte Seehofer. Er plädierte für eine stärkere Zusammenarbeit mit Polen gegen diese irreguläre Migration, etwa gemeinsame Patrouillen. Bereits jetzt seien acht Hundertschaften der Bundespolizei an die deutsch-polnische Grenze beordert worden. 

Seehofer mahnte zudem die Zusammenarbeit auf Ebene der EU an. Einer Antwort auf die Frage, ob nicht eher die deutsche Politik ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung an der sich zuspitzenden Situation trage, da hierzulande für viele Migranten sogar ein abgelehnter Asylantrag das faktische Bleiberecht bedeutet und außerdem die finanziellen Leistungen einen hohen Anreiz bieten, während die süd- und mitteleuropäischen Partner lediglich eine Durchgangsstationen sind, wich der Noch-Innenminister aus. „Wir haben etwa 290.000 ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber, von denen 240.000 in Deutschland geduldet sind – aufgrund von Tatbeständen, die der Gesetzgeber im Bund beschlossen hat“, so Seehofer. Da seien ja auch meist humanitäre Gründe ausschlaggebend.

Er habe zudem ja stets dafür geworben, mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Doch das sei am Bundesrat gescheitert. Und im Bewußtsein, daß er selbst „nur noch Wochen und keine Jahre mehr“ an verantwortlicher Stelle Entscheidungen treffen wird, präsentierte er sich als Gegner des „Spurwechsels“, den die wahrscheinliche nächste Ampel-Koalition einführen will: die Möglichkeit, aus dem Asyl- in ein Einwanderungsverfahren zu wechseln, bewirke nämlich einen weiteren Pulleffekt, so Seehofer. Sein Fazit: „Das Migrationsproblem wird uns noch viele, viele Jahre erhalten bleiben. 

Die Bundespolizeiinspektion in Görlitz-Ludwigsdorf hat unterdessen einen Maulkorb bekommen. Berichtete die Pressestelle bisher tagtäglich detailliert über ihre Aufgriffserfolge an der deutsch-polnischen Grenze sowie an der Autobahn 4, so ist ihr das jetzt untersagt. Zahlen über geschnappte Migranten gibt es künftig nur noch von der Bundespolizeidirektion Pirna, wohin die Grenzinspektionen Görlitz-Ludwigsdorf (Neiße) und Ebersbach (Dreiländereck um Zittau) ihre Zahlen melden müssen. In Pirna wird unter der Hand von einer Weisung des Bundespolizeipräsidums Potsdam gesprochen. Dieses will zwar dreimal wöchentlich Zahlen für die gesamte deutsch-polnische Grenze herausgeben, aber keine konkreten, lokalen Informationen mehr. Und das, obwohl die Bundespolizei einen nicht geringen Teil ihrer Aufgriffe Bürgerhinweisen verdankt.

Scharfe Grenzkontrollen sind mit Ampel-Koalition kaum zu erwarten

„Die Bundespolizei teilt uns leider keine genauen Zahlen mehr mit. Wir würden uns da selbst auch mehr Transparenz wünschen – können aber letztlich nur die Informationen an unsere Leser weitergeben, die wir herausbekommen“, schreibt auch die im Grenzgebiet erscheinende Sächsische Zeitung auf ihrem Onlineportal. Offenbar war ausreichend Lesern aufgefallen, daß die Tageszeitung nicht mehr über Anzahl, Nationalität, Geschlecht und Alter der Aufgegriffenen informierte. Keinen Beifall in der Führungsebene der Bundespolizei hatte wohl auch die Statistik gefunden, die Journalisten ob der exakten Angaben der Bundespolizeiinspektion Ludwigsdorf führten. Der Görlitzer AfD-Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel, selbst Polizist, kritisierte das Vorgehen der Bundespolizei mit scharfen Worten: „Anstatt illegale Migranten mit Verweis auf die Drittländer-Regelung wieder des Landes zu verweisen, sollen sie mit acht Hundertschaften aufgegriffen, gezählt und mit dem staatlichen Taxi-Service der Bundespolizei zu ihrer Unterkunft gebracht werden, damit sie dort ihren Asyl-Antrag stellen können!“ Das Problem an der Grenze dürfte jedenfalls noch lange Zeit akut bleiben und auch die nächste Regierung beschäftigen. Scharfe Kontrollen sind bei einer möglichen Ampel-Koalition kaum zu erwarten. Grundsätzlich dürfte auch weiter auf Zurückweisungen von Asylsuchenden, die aus sicheren Nachbarstaaten unerlaubt einreisen, verzichtet werden. Im Gegenteil: Illegal Eingereiste könnten bei einer Regierung aus SPD, Grünen und FDP zudem auf schnellere Arbeitserlaubnisse und Aufenthaltstitel hoffen.





Zahl der Asyl-Erstanträge steigt rasant

Im Laufe dieses Jahres (zwischen Januar und September) nahm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bisher insgesamt 100.278 Erstanträge auf Asyl zur Entscheidung entgegen. Das bedeutet eine Zunahme um 35,2 Prozent gegenüber demselben Zeitraum im vergangenen Jahr (74.173). In die Gesamtzahl dieser Erstantragsteller fließen auch die in Deutschland geborenen Kinder der Asylbewerber ein. Dies waren 2021 bisher insgesamt 19.554 Kinder im Alter von unter einem Jahr (19,5 Prozent der Antragsteller). Am stärksten vertreten waren unter den Erst-antragstellern Personen aus Syrien (40.472, plus 57,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Gefolgt von Afghanen (15.045 Erstanträge, plus 138 Prozent) und Asylbewerbern aus dem Irak (8.531 Erstanträge, plus 22,2 Prozent). Noch höher als bei den Erstanträgen fiel der Zuwachs bei den Folgeanträgen aus. Ihre Zahl stieg von 11.985 (zwischen Januar und September 2020) auf 31.454 im selben Zeitraum 2021. Dies entspricht einer Steigerung um 162,4 Prozent. Insgesamt hat das Bamf im bisher abgelaufenen Jahr 113.223 Asylentscheidungen (Erst- und Folgeanträge) entschieden. Die sogenannte Gesamtschutzquote (asylberechtigt, Flüchtlingsschutz oder subsidiärer Schutz) lag den Angaben zufolge insgesamt bei 38,7 Prozent. Im Falle von Antragstellern aus Syrien lag sie bei 56,5 Prozent. Afghanen erhielten zu 40,4 Prozent einen Schutzstatus, bei Irakern lag die Quote bei 33,8 Prozent. (vo)

 www.bamf.de