© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Es bleibt alles beim alten
Jörg Kürschner

Konstituierungen eines Bundestages haftet stets etwas Würdevolles an. Die Kleidung ist seriös, der Respekt in der ersten Sitzung noch hoch, professionelle Freundlichkeit ist angesagt. Am Dienstag war das bei der Eröffnung des 20. Bundestages anders. Die Atmosphäre war angespannt,

zeigte sich doch bereits nach wenigen Minuten, daß die Konfrontation mit der AfD weitergehen wird. Deren Kandidat für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten, der Thüringer Hochschulprofessor Michael Kaufmann, fiel mit Pauken und Trompeten durch, wie die sechs Bewerber in der zu Ende gegangenen Wahlperiode. Daß die Geschäftsordnung dieses Amt jeder Fraktion zubilligt – geschenkt. 

Und der nächste Streit ist programmiert. Die FDP will im Plenarsaal nicht länger neben der AfD sitzen, mit der Union tauschen und mehr in die Mitte rücken zu den wahrscheinlichen Koalitionspartnern SPD und Grüne. Doch CDU/CSU sperren sich, die Sitzordnung sei kein Karussell. Wohl wahr, sitzen doch auf Karussells meist Schulkinder, die sich im Klassenzimmer an ihren Sitznachbarn stören. Jedenfalls sah man SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im vertrauten Gespräch mit FDP-Spitzenpolitikern wie Christian Lindner und Volker Wissing. SPD und Grüne haben es in der Hand, ob die FDP als selbsternannte „Mitte, Mitte-Partei“ in die Saalmitte rückt. 

Der AfD wurde in der Debatte Provokation vorgeworfen, da sie wie andere Fraktionen auch Geschäftsordnungsanträge gestellt hatte. Die Partei wollte den an Lebensjahren ältesten Alexander Gauland (AfD) als Alterspräsident um die Eröffnungsrede bitten, statt den jüngeren, aber dienstältesten Parlamentarier Wolfgang Schäuble (CDU). So wie es zwei Jahrhunderte parlamentarische Tradition in Deutschland war. Zudem stellte sie einen Antrag gegen Gender-Gaga, das der Bundestag nicht übernehmen solle. Sogleich entlud sich der Furor des Wahlverlierers Linkspartei. Eine „braune Widerlichkeitsskala“ warf Parlamentsgeschäftsführer Jan Korte der AfD vor, die „in der Tradition der Nazis stehe“. Kein Ordnungsruf des Alterspräsidenten, stattdessen eine freundliche Ermahnung.

Dabei hatte der scheidende Präsident Schäuble mehrfach die parteipolitische Vielfalt des neu gewählten Parlaments gelobt, das die Vielfalt der Meinungen zur Sprache bringe. Mit der Wahl der linken SPD-Parlamentarierin Bärbel Bas zur neuen Bundestagspräsidentin vollzog sich anschließend nicht nur ein Amts-, vielmehr auch ein Epochenwechsel. Seit 1972 sitzt der 79jährige ununterbrochen im Bundestag – als Bundestagspräsident, Finanzminister, Innenminister, Kanzleramtsminister. Jetzt ist der CDU-Grande einfaches MdB. Rollenwechsel mit nachdenklichem Gesicht.

Bas hatte mit 576 Ja- von 724 abgegebenen Stimmen ein ordentliches Ergebnis erzielt. Alle nominierten Stellvertreter Aydan Özoğuz (SPD), Yvonne Magwas (CDU), Claudia Roth (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Petra Pau (Linke) werden ins Bundestagspräsidium einziehen, nicht aber AfD-Kandidat Kaufmann, der klägliche 37 Stimmen von den anderen Fraktionen erhielt.