© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Der Gewalt Tür und Tor geöffnet
Schweden: Seit Jahren mehren sich Schießereien und Bombenanschläge
Paula A. Axell

Es ist fünf Uhr morgens, als dicker grauer Rauch das mehrstöckige Wohnhaus im schwedischen Göteborg einhüllt. Kurz zuvor ist eine Bombe im Keller des Gebäudes im Stadtteil Annedal explodiert. 

Die Flammen versetzen die Bewohner in Panik: vier Personen springen aus dem Fenster, 16 werden verletzt, vier davon schwer. 250 Menschen sind auf einen Schlag obdachlos. Das ist die Bilanz eines Herbstanfangs, der den angeblich blutigsten Sommer der Geschichte Schwedens ablöst. 

Schwedens Gewaltentwicklung ist beispiellos in Europa

Laut dem Vorsitzenden der liberal-konservativen Partei Moderaterna, Ulf Kristersson, sind noch nie zuvor in der skandinavischen Idylle so viele Menschen durch Gewalttaten ums Leben gekommen wie in diesem Jahr. Die Explosion in Göteborg ist eine der stärksten, die es je in dem Land gegeben hat. 

Schweden wurde in den vergangenen Jahren von einer Welle von Anschlägen erschüttert, bei denen Waffen und Bomben zum Einsatz kamen. Seit 2013 ist die Zahl der tödlichen Schießereien rasant angestiegen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Schwedischen Rates für Verbrechensverhütung (BRÅ) ergab, daß das Land inzwischen die höchste Zahl von Todesfällen durch Schußwaffen in Europa verzeichnet. Die Entwicklung ist beispiellos auf dem Kontinent. Ähnlichkeiten finden sich nur in Staaten, die sich in einem offenen militärischen Konflikt befinden. Im vergangenen Jahr wurden 242 ausgeführte oder versuchte Bombenanschläge gemeldet. Im Vorjahr waren es noch 209 gewesen, wie aus der Statistik des BRÅ hervorgeht. 

Die Zunahme der Gewalt scheint nicht nur die schwedische Bevölkerung, sondern auch die Politiker des Landes zu verunsichern. Die voraussichtliche künftige Ministerpräsidentin Magdalena Andersson (Sozialdemokraten) räumte vergangene Woche ein, ihre Partei habe falsch gehandelt, als sie die Politik der unkontrollierten Einwanderung der früheren Regierung nicht verhindert habe. Damit bekannte sie sich dazu, daß die Gewaltspirale auf eine verfehlte Migrationspolitik zurückzuführen sei. 

Die rechten Schwedendemokraten wollen seit langem die Polizei stärken, Strafen verschärfen und das Militär gegen Bandenkriminalität einsetzen. Auch Moderaterna möchte die Befugnisse des Staates ausweiten: Die bestehenden Terrorismusgesetze sollen auf organisierte Kriminalität ausgedehnt, die Abschiebung von Bandenmitgliedern erleichtert und die Überwachung des Telefonverkehrs ermöglicht werden. Gegenwind erhält die Regierung auch von der Staatsanwaltschaft, weil sie eine angeblich notwendige Stärkung der Behörde ignoriere. Angesichts der äußerst ernsten Situation in Schweden, die von brutaler Gewalt und organisierter Kriminalität gekennzeichnet sei, sollten alle rechtlich möglichen Mittel ausgeschöpft werden, heißt es von seiten der Behörde. Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft fordern, ein System anonymer Zeugen einzuführen. Ein solches „gibt es in mehreren vergleichbaren Ländern, und wir sind der Meinung, daß auch in Schweden Bedarf dafür besteht“, so der stellvertretende Generalstaatsanwalt Magnus Johansson. 

Unternehmer fürchten um nationale Wettbewerbsfähigkeit

Auch Zivilisten und Kinder bleiben von der Gewalt nicht verschont. Im Juli waren zwei kleine Kinder in Huddinge durch Schüsse verletzt worden, als sie in der Nähe ihres Hauses spielten. Bei einem anderen Vorfall im vergangenen Jahr wurde ein 12jähriges Mädchen in Stockholm erschossen, als es mit seinem Hund spazierenging. Immer mehr Familien mit Kindern bleiben im Sommer aus Angst vor Bandenkriminellen zu Hause. Laut einer Ipsos-Erhebung bekundeten fast 30 Prozent der Befragten die Sorge, ins Visier krimineller Banden zu geraten. Eine Minderheit von rund 19 Prozent glaubt, daß die Regierung die richtigen Maßnahmen ergreift, um die Probleme zu lösen. 

Die Gewaltentwicklung und die damit verbundene negative Berichterstattung über die Landesgrenzen hinaus hat selbst in den höchsten Management-Ebenen der Wirtschaft Besorgnis ausgelöst. Immer mehr Menschen fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit Schwedens, wenn nichts unternommen wird. Die größte Wirtschaftszeitung des Landes, Dagens Industri schreibt, daß viele Firmenchefs besorgt sind, nachdem eine britische Zeitung Schweden als „Hotspot der Kriminalität“ bezeichnet hat. „Wenn Kriminelle weiterhin durch die Straßen streifen dürfen, könnte es für hiesige Unternehmen schwierig werden, ausländische Spitzentalente anzuziehen“, so Andreas Hatzigeorgiou, Geschäftsführer der Stockholmer Handelskammer. 

Foto: Wohnhaus in Göteborg: Vier Bewohner wurden durch die Bombenexplosion und den anschließenden Brand schwer verletzt