© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Konservative Kontinuität
Japan vor den Parlamentswahlen: Gewinnt Fumio Kishida den Urnengang, könnte das Fukushima-Atomkraftwerk wieder in Betrieb gehen
Albrecht Rothacher

Japans nächster Premierminister wird Fumio Kishida (64) heißen – da sind sich die politischen Auguren einig. Auch wenn seine regierende Liberaldemokratische Partei überraschend am Sonntag eine von zwei Nachwahlen zum Abgeordnetenhaus verlor. 

Die Niederlage in der Präfektur Shizuoka war nach Angaben der Kyodo News ein „schwerer Schlag“ für Kishida, der vor weniger als einem Monat sein Amt mit dem Versprechen angetreten hatte, stärkere Gegenmaßnahmen gegen Covid-19 zu ergreifen und einen „neuen Kapitalismus“ einzuführen, der das Land auf Wachstumskurs bringt und gleichzeitig den Wohlstand an die Mittelschicht umverteilt.

Kishida war zuvor Außenminister und stammt aus Hiroshima, wo seine Familie bei dem amerikanischen Atombombenabwurf im August 1945 viele Opfer zu beklagen hatte. Kishida gilt als gestandener Nationalkonservativer, der auch mit der in Tokio mächtigen Hochbürokratie gut auskommt und in der Schlußrunde des Nominierungsverfahrens den Segen von Langzeit-Premier Shinzo Abe, dem Königmacher in der seit Kriegsende fast ununterbrochen regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP), erhalten hatte.

Wie viele Abgeordnete der LDP hat der an der Elite-Universität Waseda studierte Jurist seinen Wahlkreis in Hiroshima schon in der dritten Generation inne und sich in der Regierungspartei, in der er als Fraktionsführer zum gemäßigten rechten Flügel zählt, geduldig hochgedient. So war er, bevor er Außenminister wurde, Staatssekretär in den Bau- und Bildungsministerien und Staatsminister für Okinawa und die russisch okkupierten Süd-Kurileninseln. 

Die Regierungspartei LDP ist ideologisch eine weite Kirche

Kishida mußte sich in einer Vorauswahl der Unter- und Oberhausabgeordneten und von Präfekturdelegierten der Partei gegen drei andere Kandidaten durchsetzen. In der ersten Runde schieden die beiden Kandidatinnen aus. Seiko Noda bekannte sich zum feministischen Pazifismus. Die von Abe zunächst unterstützte Sanae Takaichi zum national gesinnten Patriotismus. 

Die LDP ist als dominierende Volkspartei schließlich eine ideologisch weite Kirche. Im Endduell gewann Kishida gegen Taro Kono, der als „Parteirebell“ und „Impfzar“ es zwar geschafft hatte, Japans Impfrate, die aufgrund des Mangels an einheimisch produzierten Corona-Impfstoffen lange niedrig gewesen war, im Sommer von 1,3 Prozent auf gut 60 Prozent zu steigern und damit als in den USA studierter Kämpfer gegen die Trägheit der bürokratischen Apparate sehr populär wurde, gleichzeitig aber zu wenig Rückhalt in der Parteispitze hatte. 

Recht witzig ist eine Begegebenheit, als Kono zum Thema der zwischen Japan und Korea strittigen, von Südkorea besetzten unbewohnten Bambusinseln (Liancourt) im Japanischen Meer vor gut einem Jahrzehnt bei einem Vortrag in der Temple Universität in Tokio meinte, die „Takeshima-Inseln“ gehören uns, und die „Dokdo-Inseln“ ihnen – jeweils die nationalen Namen benennend. Zuviel Eigensinn für die Führungsetagen der LDP.

Die Neuwahl des Partei- und künftigen Regierungschefs war durch den Rücktritt von Yoshihide Suga (72), dem ebenso glück- wie erfolglosen einjährigen Nachfolger des an einer chronischen Darmerkrankung leidenden Shinzo Abe nötig geworden.

Abe hatte dem Druck des IOC nachgegeben und die verspäteten Olympischen Sommerspiele in Tokio, die eigentlich als Tourismuswerbung gedacht waren und von der Bevölkerung trotz eines Medaillensegens mehrheitlich abgelehnt und zu einem Verlustgeschäft von geschätzten 13 bis 25 Milliarden wurden, ohne Zuschauer mit einem Einreiseverbot für alle Ausländer durchgezogen. Weil Suga als blasser Parteibürokrat nach nur einem Jahr Amtszeit in den Umfragen abstürzte, verlor die LDP etliche Nachwahlen, unter anderem in Hokkaido, Hiroshima und Nagano.

Abes Olympische Spiele waren ein Finanzdesaster

Kishida, der sich einer Unterhauswahl am 31. Oktober  stellen muß, die er dank der Zersplitterung der linken, aus den Trümmern der sozialistischen Partei entstandenen, sich jetzt hauptsächlich Verfassungspartei nennenden Opposition sicher mit dem kleinen Koalitionspartner der buddhistisch-sektiererischen Gerechtigkeitspartei (Shin-Komeito) gewinnen wird, hat ein klares Regierungsprogramm: Es geht um die Bewältigung der Corona-Krise in Japan, ein neues milliardenschweres Konjunkturprogramm, zusammen mit den USA und Indien um die Freiheit des Indo-Pazifiks von der chinesischen Dominanz und um die Hebung der darniederliegenden Geburtenrate. 

Er steht auch für die Wiederinbetriebnahme der seit dem Fukushima-Unglück von 2011 stillgelegten AKWs. Dazu will Kishida einen „japanischen Kapitalismus“, der den immer mehr prekär Beschäftigten wieder wie früher oft lebenslange Arbeitsverträge und Gewinnbeteiligungen ermöglicht.

Als Konjunkturpaket droht einmal mehr die Fortsetzung einer Nullzinspolitik, die Haruhiko Kuroda als Präsident der Japanischen Nationalbank als Ausweg aus der jahrzehntelangen Stagnationskrise erfunden hatte und die seither von der amerikanischen Fed und der Europäischen Zentralbank seit 2012 mit inflationstreibender Energie imitiert wurde. Einmal mehr erscheint also nicht nur aus China, sondern auch aus Japan eine weitere Inflationsblase. Ein Kuriosum: In Japan steht die Linke für solide Staatsfinanzen, nach dem Motto: der Staat darf nicht mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Immerhin liegen die japanischen Staatschulden bei 250 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, jenseits von Gut und Böse. Die Rechte sieht dies in der Prognose künftiger Steuereinnahmen anders. 

Foto: Japans Premierminister Fumio Kishida (M.) spricht mit Restaurantbesitzern: Auch in Tokio stehen Gespräche über Covid-19-Impfbescheinigungen und Corona-Tests im Mittelpunkt