© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Irrungen und Wirrungen
60 Jahre „Deutsch-türkisches Anwerbeabkommen“: Viele Würdigungen, doch die Worte „weil wir sie eingeladen haben“ passen so nicht
Curd-Torsten Weick

Im Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet kam Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ins Schwärmen. „60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei sind für uns in Deutschland Anlaß, ganz besonders die Menschen der ersten Generation zu würdigen“, erklärte er am 5. Oktober 2021. Diese erste Generation habe „großen Anteil am Aufbau unseres Landes und seinem wirtschaftlichen Erfolg“. „Diese Menschen kamen, weil wir sie eingeladen haben. Weil wir sie brauchten. Wir verdanken ihnen viel. Unser Land ist mit ihrer Hilfe wirtschaftlich stärker und wohlhabender geworden, als Gesellschaft offener und vielfältiger“, so der SPD-Politiker.

Beim Festakt zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei, der ebenfalls am 5. Oktober 2021 stattfand, rückte Steinmeier die Sache zurecht. Das Abkommen vom 30. Oktober 1961 sei „kein Akt der Nächstenliebe oder gar ein Zeichen fortschrittlicher Zuwanderungspolitik“ gewesen. „Deutschland war knapp an Arbeitskräften. Die Optionen lauteten: Entweder Wachstumsverzicht oder Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.“ 

Die Türkei und ihre Strategie des Arbeitskräfteexports

Noch am 10. September 2021 hatte Steinmeier bei einer weiteren Festveranstaltung im Schloß Bellevue das „deutsch-türkische Anwerbeabkommen“ gewürdigt – besser gesagt den Austausch schlichter Verbalnoten von deutschen und türkischen Diplomaten in Bad Godesberg am 30. Oktober 1961. Die „deutsch-türkische Vereinbarung über die Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern“, die rückwirkend am 1. September 1961 in Kraft trat und für ein Jahr abgeschlossen war, verlängerte sich stillschweigend jeweils um ein weiteres Jahr, falls sie nicht von einer der beiden Regierungen spätestens drei Monate vor Ablauf ihrer Gültigkeit gekündigt wird, war zuerst innenpolitisch äußerst umstritten. Auch Steinmeiers Bilanz („Diese Menschen kamen, weil wir sie eingeladen haben. Weil wir sie brauchten“) führt in die Irre. 

Die Initiative zur Vereinbarung, so Forscher aus Deutschland und der Türkei, ging nicht von der Bundesrepublik aus. Die türkische Regierung – am 27. Mai 1960 hatte das türkische Militär die Regierung Adnan Menderes gestürzt und dann das Land bis zum 15. Oktober 1961 regiert – habe weit mehr im Sinn gehabt, als ihre überzähligen Arbeitskräfte vorübergehend auf dem damals nahezu leegefegten westdeutschen Arbeitsmarkt unterzubringen, schreibt Karin Hunn 2002 in ihrem Aufsatz „Asymmetrische Beziehungen – Türkische ’Gastarbeiter’ zwischen Heimat und Fremde“. 

Vor allem sei der damalige türkische Arbeitsminister Cahit Talas – vom 2. März 1961 bis 25. Oktober 1961 im Amt – auch aus „erzieherischen“ Motiven an der „Entsendung einer möglichst großen Zahl von Arbeitskräften nach Deutschland“ interessiert gewesen. Die Türken sollten in einem Milieu Erfahrungen sammeln, das ihnen Atatürk als Leitbild geschildert habe, und dadurch zur weiteren Verwestlichung und Modernisierung der Türkei beitragen, zitiert Hunn den Soziologen Richard Haar, der Anfang der 1960er Jahre türkische Arbeitnehmer betreute.

„Die Türkei formulierte eine Strategie des Arbeitskräfteexports als Instrument ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und ging durch Anwerbeabkommen, beginnend mit dem Abkommen mit Deutschland aus dem Jahr 1961, neue Beziehungen zu arbeitsintensiven Industrieländern ein“, betont der türkische Professor für Internationale Beziehungen Ahmet İçduygu. Nach der Verabschiedung der Verfassung von 1961 sei im ersten Fünfjahresplan für die Entwicklung der Türkei (1962–1967) der „Export überschüssiger Arbeitskraft“ als Bestandteil der Entwicklungspolitik im Hinblick auf die zu erwartenden Überweisungsströme und den Abbau der Arbeitslosigkeit beschrieben worden, beschreibt İçduygu in seinem Beitrag „50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit Deutschland“. 

Bei den nach Deutschland wandernden Türken habe es sich in der Mehrzahl um solche gehandelt, die bereits eine Binnenwanderung aus dem unterentwickelten „halbfeudalen“ Osten in der Türkei in die Metropolen Ankara, Izmir oder Istanbul hinter sich hatten, erklärt der Nahost-Experte Udo Steinbach in seinem Buch „Die Türkei im 20. Jahrhundert“. 

Dort hätten diese ungelernten Arbeiter auf Vermittlung durch private Übersetzungsbüros gewartet, die Anzeigen aus Deutschland veröffentlichten und die Bewerber nach Deutschland vermittelten. Die ehemals 10 bis 15 Einreisegesuche türkischer Staatsangehöriger beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul pro Monat seien im bereits April 1960 auf cirka 500 gestiegen, schildert Heike Knorz in ihrem Standardwerk „Diplomatische Tauschgeschäfte: ‘Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973’“. 

Nachdem die türkische Militärregierung Anfang August 1960 habe verlauten lassen, die Vermittlung von Arbeitskräften stärker durch amtliche Stellen zu regeln, habe das bundesdeutsche Generalkonsulat in Istanbul Bonn empfohlen, ein Anwerbeabkommen auch mit der Türkei in Erwägung zu ziehen, zitiert Knorz Akten des Amtes. Das in die Debatte hierüber involvierte Bundesministerium für Arbeit (BMA) sei zu Beginn „nicht unbedingt“ von den Vorteilen einer solchen Vereinbarung überzeugt gewesen, da ein nicht unerheblicher Teil der in die Bundesrepublik eingereisten Arbeitnehmer aus Italien, Griechenland und Spanien die zwischenstaatlich geregelten Anwerbeabkommen gar nicht in Anspruch genommen habe. Auch solle man „grundsätzlich“, und hierauf habe das Bundesarbeitsministerium unter Führung von Theodor Blank (CDU) laut Knorz intern stets insistiert, wie in allen bisherigen Fällen „die Initiative zum Abschluß einer Vereinbarung“ der türkischen Regierung überlassen.

Westdeutschland wollte den Nato-Partner nicht brüskieren 

Zudem, so zitiert Knorz das BMA weiter, hätten sich mit gutem Grunde einige andere Staaten, deren dahingehende Wünsche nach einem Anwerbeabkommen zurückgewiesen wurden, auf dieses neue Beispiel berufen können und die erhaltenen Absagen als Diskriminierung auffassen. Arbeitsmarktpolitisch habe zudem auch die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BA) keine Notwendigkeit für eine Anwerbevereinbarung mit der Türkei gesehen, da der Kräftebedarf in den anderen Anwerbeländern „hinreichend gedeckt“ werden könne. Allerdings habe der bis dahin immer und ausschließlich mit Blick auf den Arbeitsmarkt argumentierende Präsident der BA, Anton Sabel, erklärt, nicht beurteilen zu können, ,,wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei als Nato-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung“ einnehme. Ihre Mitgliedschaft in der Nato hatte auch die Türkei selbst neben dem „lebhaften“ Wirtschaftsaustausch mit der Bundesrepublik immer wieder zur Untermauerung ihres Wunsches nach Abschluß einer Vermittlungsvereinbarung vorgebracht, so Knortz. 

„Unsere gemeinsame Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft der freien Welt bildet auch den Hintergrund für eine fruchtbare Entwicklung unserer zweiseitigen Beziehungen.“ Mit diesen Worten hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits im Jahr 1954 die deutsch-türkischen Beziehungen für die Nachkriegszeit auf den Punkt gebracht. Die beiden Nato-„Frontstaaten“ saßen im selben Boot und ergänzten sich zur Freude der Führungsmacht USA, die Bonn in puncto Militär- und Wirtschaftshilfe zum Türkei-Engagement drängte, prächtig. Getragen von der auf beiden Seiten gepflegten alten „Waffenbrüderschaft“ hatte sich eine deutsch-türkische Erbfreundschaft entwickelt, die dann auch bei der Vereinbarung über die Vermittlung türkischer Arbeitnehmer zum Tragen kam. 

In der Folge war es nur konsequent, daß Bonn und Ankara am 30. September 1953 ihren Staatsangehörigen die Einreise ohne Sichtvermerk in ihr Gebiet zubilligten. Eine Geste, die in den Folgejahren ohne Konsequenzen blieb. So betrug die türkische Bevölkerung in Westdeutschland noch im Jahr 1960 um die 3.000 Personen.

Dies änderte sich Ende 1961. Das BMA gab seine Zurückhaltung ebenso wie das Auswärtige Amt auf. Nach Angaben von Knorz habe das Auswärtige Amt aus „grundsätzlichen Erwägungen“ der türkischen Botschaft dann  in einer Verbalnote vom 17. Februar 1961 die Entsendung einer kleinen BA-Kommission in die Türkei vorgeschlagen, die in Zusammenarbeit mit den türkischen Arbeitsbehörden für konkrete Beschäftigungsangebote deutscher Unternehmen beruflich und gesundheitlich geeignete türkische Bewerber auswählen, informieren und deren Ausreise organisieren sollte. Diesem Vorgehen habe dann die Türkei zügig zugestimmt. 

In der Folge gab es keine Kritik an der Vereinbarung. Im Gegenteil. Noch im Mai 1967 begrüßte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) – die Anzahl der Türken hatte sich auf 160.000 (1966) erhöht – die „menschliche Begegnung auf breitester Ebene“. Daneben wurde positiv vermerkt, daß die türkischen Arbeitnehmer nicht nur zur Steigerung des Sozialprodukts, sondern überdies durch die Überweisung ihrer Ersparnisse in die Türkei, wesentlich zur Entlastung der türkischen Zahlungsbilanz beitragen würden. Zweitens war klar ersichtlich, daß man die türkischen Gastarbeiter als vorübergehendes Phänomen betrachtete 

Da die Arbeitsver­waltung in den ersten Jahren nach einem Rotationsprinzip verfuhr, kam diese Sichtweise nicht von ungefähr. Doch nachdem das Rotations­prinzip auf Drängen der Arbeitgeber, die nicht immer wieder neue Leute anwer­ben und anlernen wollten, Ende der 1960er Jahre aufgegeben wurde, sollte sich die Situation langsam wandeln. Gab es bis dahin keine „Gastarbeiterfrage“, so wurde sie spätestens im Jahr 1973 – die Zahl der Türken in der Bundesrepublik hatte sich mittlerweile auf 910.000 erhöht – aufgeworfen. Vor dem Hintergrund von Ölkrise und Rezession wurde daraufhin am 23. November 1973 ein Anwer­bestopp für Arbeitnehmer, die nicht aus Ländern der EG kamen, verfügt.

Von der Aufbauleistung der Türken war damals nicht die Rede. Stattdessen beschäftigte sich die CDU/CSU-Fraktionsvorsitzendenkonferenz im Juni 1973 mit den „Problemen der ausländischen Arbeitnehmer“. „Seit einer Reihe von Jahren ist das Problem der Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer und Familienangehöriger der Bundesregierung völlig aus den Händen geglitten“, kritisierte die Union in Richtung SPD/FDP-Regierung und erklärte: „Die Grenze der Belastbarkeit der Infrastruktur ist jedoch durch den ungesteuerten Zustrom aus dem Ausland vielerorts bereits erreicht und in Ballungsgebieten sogar schon überschritten.“

Foto: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigt  am 10. September die Türken in Deutschland: „Wir verdanken ihnen viel“