© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Alles nur sozial konstruiert – oder?
Widersprüche der Identitätspolitik: Das Geschlecht eines Menschen kann sich wandeln, seine Rassenzugehörigkeit hingegen nicht
Björn Harms

Die „woke“ Ideologie steckt in einem Widerspruch fest. Und dieser ist kaum zu lösen. Oder anders gesagt: Er kann und soll überhaupt nicht gelöst werden. Der logische Bruch lautet wie folgt: Ein Mann kann jederzeit zu einer Frau werden und umgekehrt, aber eine weiße Person kann niemals ein Schwarzer werden. Das Geschlecht ist also beliebig wandelbar, die Rasse bleibt stets unverändert. Das mag zunächst verwirren. Schließlich postulieren die Denker der „Critical Race Theory“, deren Annahmen sich alle in der postmodernen Identitätspolitik wiederfinden, daß alle Kategorien, ob „heterosexuell“ oder auch „schwarz“ und „weiß“, sozial konstruierte Zuschreibungen seien, die durch kulturelle und historische Kontexte geprägt wurden.

In der Konsequenz sieht das jedoch anders aus. Beim Thema Geschlechtsumwandlungen häufen sich in den vergangenen Jahren die öffentlichkeitswirksamen Transitionen: In den USA gab etwa vor wenigen Monaten die kanadische Schauspielerin Ellen Page ihr Coming-out als Trans-Mann bekannt und teilte mit, von nun an mit dem Namen Elliot Page aufzutreten und männliche Pronomen zu verwenden. Hierzulande änderte beispielsweise im September 2019 der WDR-Moderator Georg Kellermann Geschlecht und Namen. Seither gilt Georgine Kellermann als bewundernswerte und emanzipierte Frau.

Bei der Rasse greifen diese Gesetzmäßigkeiten nicht: Als 2020 bekannt wurde, daß die Historikerin Jessica Krug von der George Washington University biologisch gar keine schwarze Frau war – sie hat zwei weiße Eltern und gab ihre Rolle jahrelang nur vor –, war der Aufschrei groß, gerade in der „Black Community“. Krug mußte ihren Posten räumen und gab reumütig zu Protokoll: „Ihr solltet mich canceln, absolut, und ich cancele mich selbst.“ Doch warum eigentlich? Warum ist es ihr nicht gestattet, sich schwarz zu fühlen, so wie Transgender-Personen spüren, daß sie im falschen Körper leben?

Zur Klarstellung des Problems muß man sich noch einmal der Prämissen der „Queer Theory“ bewußt werden, die sich ab den 1990er Jahren rund um feministische Autorinnen wie Judith Butler und die inzwischen verstorbene Eve Kosofsky-Sedgewick entwickelten. Ihre Doktrin teilt nicht das herkömmliche biologische Grundschulwissen. Wir haben gelernt: Gesunde Frauen haben eine Gebärmutter, eine Vagina, weibliche Keimdrüsen und produzieren Eizellen. Gesunde Männer haben einen Penis, Hoden, männliche Keimdrüsen und produzieren Sperma. Von diesen grundlegenden biologischen Normen gibt es natürlich auch genetische Abweichungen, die Intersexuelle, Zwitter oder auch Hermaphroditen genannt werden, jedoch in allen Teilen der Welt nur einen winzigen Teil der Bevölkerung ausmachen. 

Gemäß des Wissenschaftszweigs der „Queer Theory“ sind „Mann“ und „Frau“ jedoch bloße soziale Kategorien, die durch soziale Regeln durchgesetzt werden. Biologie spielt hierbei keine Rolle. Das Geschlecht wird also von der Realität entkoppelt. Die jetzigen patriarchalen Strukturen wurden in der queer-feministischen Logik von Cis-Hetero-Männern geschaffen, um durch die Normierung des Eigenen die Macht erlangen und Kontrolle über marginalisierte Randgruppen ausüben zu können.

Die postmoderne Lösung der Queer-Theoretiker ist einfach und effektiv: Dekonstruktion. Sie greifen die bestehenden Begriffe an und definieren diese durch die Macht ihrer universitären Lehrstühle neu, bis auch der Mainstream die Beschreibung der alternativen Wirklichkeit akzeptiert. Die Stabilität der biologischen Gewißheit wankt, die Kategorien werden fließend. Auf diese Weise kann jeder alles sein und niemand ist gezwungen, etwas Bestimmtes zu sein, nur weil er zufällig diese oder jene Genitalien hat. Da die Queer-Theorie das Geschlecht als ein System der Kontrolle und Unterdrückung betrachtet, wird der Wechsel des Geschlechts als eine Möglichkeit gesehen, sich von diesem unterdrückerischen und ausbeuterischen Geschlechtssystem zu befreien.

Bei der Kritischen Rassentheorie sieht es ähnlich aus. Ihre Ideologen gehen von der Idee der „Rassifizierung“ aus. Demnach seien die Konzepte der „weißen Rasse“ und der „schwarzen Rasse“ von Europäern geschaffen worden, um die Sklaverei zu rechtfertigen und ihrerseits ein bestehendes Machtsystem zu festigen. Das ist zumindest aus soziologischer Sicht gar nicht mal völlig verkehrt. Zwar gab es Sklavenhandel in vielen Kulturen der Menschheitsgeschichte und er war mitnichten eine genuin weiße Angelegenheit. Ganz im Gegenteil: Die Europäer vollbrachten sogar die historisch einmalige Kulturleistung, die Sklaverei in ihrem Zivilisationskreis abzuschaffen. Allerdings diente der „wissenschaftliche Rassismus“ des 19. Jahrhunderts auch der Abwertung schwarzer Menschen im Sinne einer rationalen Begründung des Benachteiligens. 

Daher begannen die Gegner des Rassismus die Bedeutung der Rasse zu hinterfragen. Gemäß des europäisch-universalistischen Ansatzes sollten Menschen künftig nicht mehr aufgrund ihres Aussehens diskriminiert werden. Genau hierin liegt die Krux: Denn die Kritische Rassentheorie will gar nicht, daß der Begriff Rasse seine soziale Bedeutung verliert. Es sei tatsächlich niemals möglich, daß die Rasse ihre soziale Bedeutung in Gänze verliere, argumentieren sie. Rassismus ist und bleibt dauerhaft. Denn wäre es anders, könnten auch keine offensiven Ansprüche mehr im Sinne einer Quotenpolitik formuliert werden. Was heißt das genau?

„Weiße lernen, weiß zu sein, sie werden nicht weiß geboren“, lautet die These der Autorin Sue Booker, die sich selbst nur Thandeka nennt. Ihr Konzept wird auch an vielen US-Universitäten im Fach „Whiteness Studies“ gelehrt. Weiße Kinder würden demnach „als Menschen geboren“, aber nach und nach „zum Weißsein gezwungen“ werden, zum Teil unter dem Einfluß von psychischer und physischer Gewalt. Diese Identitätsschaffung sei notwendig, da Weißsein als „eine Form der rassischen Unterdrückung“ diene, wie es der Historiker Noel Ignatiev formulierte. „Es gibt keine weiße Rasse ohne das Phänomen der weißen Vorherrschaft (‘white supremacy’).“ 

Schwarzsein wiederum entsteht grundsätzlich aus einer Opferrolle heraus. Man widersetzt sich dem Unterdrücker und bildet eine oppositionelle Identität heraus. In dieser Logik kann eine weiße Person nicht nichtrassistisch sein, da sie stets am ausbeuterischen System partizipiert. Wenn diese Form des Rassismus also nicht abgelegt werden kann, müssen die vorhandenen Kategorien akzeptiert werden. Jede Rasse soll nun gemäß der „woken“ Ideologie radikale Identitätspolitik betreiben – um den rassistischen Status quo zu bekämpfen. Dann macht es auch keinen Unterschied mehr, ob ich die Rasse sozial oder biologisch definiere – da weiße Personen als rassistische Täter gesehen werden und somit die Konsequenzen gleich sind. Gemäß der identitätspolitischen Sicht ist es zudem nicht möglich zu wissen, wie es sich anfühlt, als Schwarzer in einer weißen Mehrheitsgesellschaft aufzuwachsen, wenn man keine schwarze Haut hat. Wenn also jemand, der als Weißer aufwächst, versucht, „schwarz zu werden“, kann er das nicht, weil ihm die Erfahrung des Schwarzseins fehlt. 

Nun kann man jedoch fragen: Warum kann ich dann zum Mann werden, wenn ich niemals die Erfahrung gemacht habe, wie es ist, als Mann zu leben? Hier geht die Rechnung nicht auf. Die Identitätsfanatiker postulieren, daß das Geschlecht dekonstruiert werden muß, weil es geschaffen wurde, um alle Gruppen abgesehen von heterosexuellen Männern zu unterdrücken. Gleichzeitig wollen sie an der Rasse festhalten, um eine Identitätspolitik betreiben zu können, die in den Erfahrungen verschiedener ethnischer Gruppen (insbesondere der Schwarzen) wurzelt und sich erst als Reaktion formt.

Zwei Phänomene – die Rasse und das Geschlecht – sind also in der „woken“ Ideologie soziale Konstrukte. Doch für das eine ist die Erfahrung das entscheidende Kriterium, für das andere das bloße Gefühl der Entscheider. In diesen essentialistischen Diskursen findet sich also keine Ideologie, die in sich Konsistenz aufweist. Die Begründungen sind mystisch und nebulös. Zudem lassen sich unbeantwortbare Fragen beliebig fortführen. Wie passen etwa die Kinder eines schwarzen und eines weißen Elternteils in dieses Bild hinein?

In ihren Folgen bleibt die Denkweise der heutigen Identitätspolitik jedoch konsequent: Europäer sollten sich „auf den demographischen Zuwachs durch Araber und Asiaten vorbereiten“, schrieb der US-Publizist Parag Khanna Anfang Oktober in der Financial Times und sprach damit aus, wohin die Reise gehen soll. „Für ‘Deutschland hat eine eklige, weiße Mehrheitsgesellschaft’ muß sich meines Erachtens niemand entschuldigen“, lautet das ergänzende Fazit des deutsch-marokkanischen Autors Mohamed Amjahid.

Wenn Weiße also ihren Rassismus sowieso nie loswerden können und sie problemlos an den Pranger gestellt werden können; wenn der Rassismus von vermeintlichen Antirassisten moralisch gerechtfertigt ist; wenn diese Entwicklung vom Mainstream akzeptiert wird; dann entwickelt sich die ethnische Veränderung eines Staates ganz automatisch zu einem positiven Projekt: Es ist gut, wenn es weniger weiße Deutsche gibt und stattdessen mehr Migranten ins Land einwandern. Und als belehrendes Lippenbekenntnis heißt es dann: Wir meinen doch nur das soziale Konstrukt, also ganz ruhig alter, weißer Mann!

Foto: Baukastenprinzip, (fast) alles ist möglich: Männer werden zu Frauen und umgekehrt. Die Stabilität der biologischen Gewißheit wankt, die Kategorien werden fließend