© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Deutschland braucht eine konservative Rekonstitution
Reform an Haupt und Gliedern
Boris Preckwitz

Deutschland zeigt derzeit alle Grade politischen Scheiterns. Das Staatsdrama dieser Tage ist nicht nur der geistige Niedergang der christdemokratischen Union, es sind die Hinterlassenschaften der Regierungszeit Angela Merkels insgesamt – eine scheckige Vielfalt an Verfall. Je länger die Kanzlerin regierte, desto mehr näherte sich der Seelenzustand des Landes demjenigen der DDR ihrer Kindheit. Zurück in repressive Verhältnisse und Schweigekammern. Der Merkelsche Regierungsapparat durchmauerte mit seinem dumpfen Beharrenden die Aussitz-Politik der Kohl-Kanzlerschaft mit der Starre des Honecker-Regimes. Für Merkels zukünftiges Bild in den Geschichtsbüchern genügt ein Satz: Deutschlands erste Kanzlerin vereinte in sich das Schlechteste zweier Welten. Man mag ergänzen: Und das Land war mit ihr geschlagen.

Denn ungeachtet der Jubeltiraden auf die Weltpolitikerin Merkel wurde die Liste der politischen Versagensfälle stets länger. Da waren: Aufgabe der verfassungsrechtlichen Souveränität des Staates, EU-Schuldenunion, Infragestellung des Staatsvolks durch eine vermeintliche global citizenship, Austausch des Privaten durch das Politische, Zertrennung der Familienbindung, Verzicht auf Geltung von Grenzen, Verlust der Sicherheit im öffentlichen Raum, Schwächung des Rechtswesens und der Polizei durch Unterlassung im Vollzug, Degradation des Militärs durch Vorenthaltung von Wehrfähigkeit, Wegducken der Parlamentsgewalt vor nicht gewählten NGOs, Versagen in Verwaltungen infolge von Quoten statt Qualifikation, Selbstauflösung der Kirchen wegen „politisch-korrekter“ Selbstbesorgtheit statt Seelsorge, Entwertung der Währung und der Sparvermögen, Verschuldung öffentlicher Haushalte, Versagen des Rentensystems, Kujonierung des freien Unternehmertums, Abwesenheit von Seuchen- und Katastrophenschutz, Minderung des Wissenschaftswertes durch politische Dienstbarkeit und linke Angriffe auf die universitäre Lehre, Verflachung des Kunstschaffens im „woken“ Agitprop, mediale Aufrufe zur ethnischen Desintegration. Die Befunde ließen sich fortsetzen.

Deutschland erlebt gegenwärtig einschneidende Wertverluste und Leistungsschwächen in sämtlichen gesellschaftlichen Systemen und Sektoren. Alarmierend ist die Reichweite der Ausfallerscheinungen auch deshalb, weil sich Kopplungen und Rückkopplungen ergeben, die sich gegenseitig verstärken:

Das deutsche Asylrecht dient nicht mehr allein dem ursprünglichen Schutz politisch Verfolgter, sondern öffnet einen unbeschränkten Migrationsweg sogar für Gewalttäter und Urheber von Verfolgung. Die sozialen Folgekosten der Migration übersteigen ihren Beitrag für das Bruttoinlandsprodukt des Landes. Das Bildungssystem simuliert Lernfortschritte durch geringere Anforderungsprofile und produziert unter Jugendlichen ebenso eine hohe Zahl von Schulabbrechern wie andererseits geringere Studierfähigkeit und Eignung für Zukunftsberufe. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik ist geprägt von Subventionen und Fehlallokationen, die von Energiepreisen über Mieten bis hin zur Altersvorsorge bei immer weniger Gegenwert den Bürgern immer höhere Kosten abverlangen.

Zudem hat sich eine Regierungspraxis entwickelt, die ihre eigenen Anliegen selbst hintertreibt: Der Zentralismus der EU verstärkt den Rückzug in nationale und regional­autonome Grenzen. Die inländische Sozialwirtschaft ebenso wie die internationale Entwicklungshilfe verhelfen Menschen nicht mehr zur Selbstfürsorge, sondern verstetigen ihre kostspielige Alimentierung von Generation zu Generation. In Berlin verhindert linke Wohnungspolitik den Wohnungsbau. Man wundert sich, wie Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes solche Zustände mit ihrem Berufsethos vereinbaren können. Es mag für manche Staatsdiener heutigen Tages eine überraschende Erkenntnis sein, aber der Sinn von Behörden liegt nicht in Genderpolitik und der Versorgung von Parteigenossen, sondern in einem effizienten Betrieb des Gemeinwesens. Viele staatliche Institutionen arbeiten mittlerweile so dysfunktional, daß sie die Aufgaben, zu deren Bewältigung sie einst eingerichtet wurden, genau ins Gegenteil verkehren.

Ebenso offensichtlich ist, daß sämtliche Fehlentwicklungen einer bestimmten Programmatik folgen: der Neuen Linken, die 1968 einen Marsch in die Institutionen begann, um – entsprechend einer Gedichtzeile von Günter Eich – als „Sand im Getriebe“ zu wirken. Da aber schon 1969, vor allem nach 1989, das marxistische Konzept der Masse mangels interessierter Masse gar nicht anwendbar war, legte sich die Linke ein neues Narrativ zu, als nunmehr internationalistische „Multitude“ von Minderheiten. Die kultische Verehrung einer jeglichen Viktimisierung hing auch damit zusammen, daß der Linken seit dem Zusammenbruch des Sozialismus daran gelegen war, sich von einer Täter- zu einer Opferideologie zu stilisieren. Auf diese politische Leidensmiene fielen sogar die konservativ-siegelbewahrenden Kirchen herein, die sich theologisch auf Solidarität mit dem Linksradikalismus ausrichteten.

Anders als der Sozialismus alten Stils verfolgt der Sinistrismus von heute nicht gleich die Abschaffung ganzer gesellschaftlicher Systeme oder Subsysteme, sondern beginnt mit deren schleichender Entwertung, um anschließend seine Vergesellschaftung aufzusetzen. Begriffe werden mit anderem Framing versehen – etwa der Begriff der „Gerechtigkeit“ als „Gleichheit“ ausgelegt –, alsdann eine Verteilung ins Werk gesetzt, die der Leistung der einzelnen eben keine Gerechtigkeit mehr gewährt. Aus dem politischen Flüchtling, dem für die Zeit seiner Verfolgung ein Recht auf Asyl gewährt wird, wird ein „Geflüchteter“, der auch ohne politische Verfolgung unbefristet materielle Versorgungsansprüche gegen das ihm fremde Gastland einklagt.

Insbesondere in der Migrationspolitik lassen sich beispielhaft die Taktiken der Linken erkennen: das bewußte Herbeiführen von Situationen, für welche die Gesetze früherer Jahrzehnte gar nicht ausgelegt waren. Die „Willkommenskultur“ wurde herbeigeschrieben von einer Medienoffensive, ganz im Stile asymmetrischer Kriegsführung mit dem Zweck, Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen. Zudem verfolgte die Linke die Praxis, mit vielfältigen bürgerschaftlichen Initiativen und Vereinen, gleichsam molekular den Körper der Zivilgesellschaft zu durchdringen und sich öffentliche Finanzmittel zu verschaffen.

Dabei betrieb der Sinistrismus eine doppelte Strategie: eine linksextremistische auf der Straße und eine legalistische über den Gerichtsweg. Der linke Legalismus zielt darauf ab, über politische Aktionen etwas ansatzweise Faktisches zu inszenieren, das anschließend auf Ebene des Normativen zur Alltagspraxis werden soll. Dasselbe Vorgehen zeigt sich sowohl in der Gender- wie auch der Umweltpolitik. Bei letzterer ziehen Umweltorganisationen über das Verbandsklagerecht oder Einzelpersonen über Menschenrechtsklagen vor die Gerichte. Ziel dieser weitgehend von Linksradikalen gekaperten grünen „Großen Transformation“ ist ein internationalistischer Ökosozialismus.

Politischer Widerstand gegen das Zersetzungswerk der Linken blieb aus in den schier endlosen Jahren der Merkel-Kabinette wie bereits in der Kohl-Ära. Statt dessen entstanden immer mehr rechtsfreie und Rückzugsräume, in denen das linke Spektrum den Überbau einer gesellschaftlichen Hegemonie vorantreiben konnte. Es ist das historische Versagen der deutschen Christdemokraten und Freidemokraten, diese im Inneren der Gesellschaft sich vollziehende Politisierung nie verstanden, geschweige denn mit eigenen Strategien und Taktiken das Terrain der eigenen Weltanschauungen gesichert und ausgebaut zu haben.

Heute obliegt es einem sich neu formierenden Konservatismus, der in Form der AfD bereits seine parlamentarische Verankerung hat, als Korrektiv gegen Links an einer eigenen gesellschaftlichen Durchdringung zu arbeiten. Die existentielle Arbeit, die von Konservativen aller Professionen und Schichten geleistet werden muß, liegt entlang der gesamten Verfaßtheit der Gesellschaft: politisch, administrativ, ökonomisch, kulturell, medial und vor allem edukativ. Wo immer der Platz eines und einer jeden Konservativen ist, wird dieser Umbruch geleistet werden müssen, an jedem Ort, in jeder Organisation, mit allen Opfern eigener Ressourcen. Nötig ist die Rückbesinnung auf die Zwecke und Ziele, zu denen unsere Institutionen ursprünglich geschaffen worden sind. Nötig sind der Wille zur Verantwortung und ein Leistungsanspruch an alle Männer und Frauen, wo immer sie zur Besetzung öffentlicher Ämter antreten.

Zumeist bedeutet dies für Konservative einen eigenen Marsch durch die nach links verschobenen Institutionen. Leistbar ist das allemal. Denn was die Linke seit 1968 beim Organisationsaufbau im vorpolitischen Raum vollzog, wiederholte lediglich eine Strategie der Sozialdemokratie aus der Kaiserzeit: die Aneignung des konservativen und nationalliberalen Sozietarismus. Das kulturelle und sportliche Vereinswesen des Konservatismus war bis in die Massengesellschaft hinein ebenso gesellschaftsbildend wie seine politisch-patriotischen Clubs und wirtschaftlichen Korporationen. Die Linke ergänzte diese zivilen Strukturen der Selbstorganisation lediglich um massenmobilisierende Aktionsformen und um politische Aktivistenbewegungen, denen sie mediale Resonanzräume, staatliche Alimentierung und juristische Interventionsmöglichkeiten gegen alle Staatsorgane verschaffte.

Es kann der Konservatismus also für seine zu leistende Reformierung der Zivilgesellschaft auf ursprüngliche Kernkompetenzen zurückgreifen – auf die korporativen Stärken, die ihn zwischen 1860 und 1960 zur führenden gesellschaftlichen Kraft gemacht haben. Dies erfordert Organisationen in zeitgemäßer Gestalt und Partizipationsformen: mit Vereinen im vorpolitischen Raum und Vernetzungen durch die gesamte Gesellschaft, mit Stiftungen und Pressure Groups, mit zivilen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen, mit bürgerschaftlichen Bündnissen und Bewegungen auf der Straße. Es braucht eine konservative Geistesverfassung, die nicht um Nachteile für das eigene Leben fürchtet, denn die größere Sache, um die es für den Bestand Deutschlands geht, ist überzeitlich: Konservatismus bedeutet Herkunft, die sich in der Gegenwart auf Zukunft hin entwirft. In der Bewahrung von Bestand liegt das Wesen der Kultur selbst, als Proprium und Kontinuum einer Gemeinschaft, auch als Bergung von Brüchen, als Hegung und Heilung.

Es braucht jetzt und fortan die Revision und Rückeinsetzung aller gesellschaftlichen Systeme, die in ihrer Leistungsfähigkeit geschwächt worden sind – mit dem bergenden Wissen geschichtlicher Erfahrungen und der erfahrungsgeprägten Kompetenz zur zukunftstauglichen Folgeabschätzung.

Vor drei Jahrzehnten hatte Deutschland das geschichtliche Glück, die Nation in kultureller Restitution zu vereinen. Was wir jetzt anzugehen haben, ist auf allen Ebenen eine Restauration der gesamten systemischen Leistungskraft und politisch-gesellschaftlichen Verfassung des Landes – eine konservative Rekonstitution, in der die Macht des Normativen die Sachlage des Faktischen bestimmt.






Boris Preckwitz, Jahrgang 1968, arbeitet im Marketing und der PR. Er studierte Literaturwissenschaft in Göttingen und Hamburg sowie Management in Berlin. Er veröffentlichte Essays, Lyrik und Dramen und wurde mit Autorenpreisen ausgezeichnet. Heute lebt er in Hannover, wo er ein kulturpolitisches Debattenforum vorbereitet, die August W. Rehberg-Gesellschaft.

Foto: Der Zustand der Straßen, hier in Berlin, kann pars pro toto für unser Land im Niedergang stehen: Zum Opfer des Zersetzungswerks der Linken geworden, muß Deutschlands politisch-gesellschaftliche Verfasung auf allen Ebenen wieder aufgebaut werden