© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Herz, Hirn und Hand
Silvio Kobels umfassende Biographie des führenden NS-Widerständskämpfers Henning von Tresckow ist ein großer Wurf
Dirk Glaser

Am 13. März 1943 hatte Henning von Tresckow (1901–1944), Erster Generalstabsoffizier der Heeresgruppe Mitte, alle Vorbereitungen getroffen, um Adolf Hitler in deren Hauptquartier nahe Smolensk zu erschießen. Dieses Pistolen-attentat schlug fehl, weil Heinrich Himmler, der avisierte Begleiter des obersten Kriegsherrn, der „in einem Abwasch“ ebenfalls liquidiert werden sollte, seine Teilnahme an der Besprechung kurzfristig absagte. Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge, Tresckows Chef, untersagte die Aktion in letzter Minute, weil ihm bei einem toten Hitler und einem lebenden Himmler der Horror eines „Bürgerkriegs“ zwischen Wehrmacht und SS vor Augen stand. 

Tresckow zog an diesem Tag aber noch ein weiteres As aus dem Ärmel. Er ließ zwei mit Sprengstoff gefüllte Cognac-Flaschen in die „Führermaschine“ schmuggeln, die während Hitlers Rückflug nach Ostpreußen explodieren sollten – doch die Zünder versagten. Davon immer noch nicht entmutigt, schickte Tresckow kurz darauf einen Mitverschwörer, Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, den Dritten Generalstabsoffizier der Heeresgruppe, nach Berlin. Der war entschlossen, sich am „Heldengedenktag“ mit Hitler in die Luft zu sprengen, kam bei der vorgesehenen Veranstaltung aber zu ihm nicht in engeren Kontakt. 

Drei gescheiterte Attentate binnen einer Woche markierten den Höhepunkt der Aktivitäten des Offiziers, der „für Jahre Herz, Hirn und Hand der Militäropposition“ (Christian Graf von Krockow) gegen das NS-Regime war. Und es trotz dieser frustrierenden Rückschläge als treibende Kraft im Hintergrund auch blieb, obwohl im Verlauf des Jahres 1943 die Regie für den letzten Akt, das spektakulär mißglückte Attentat vom 20. Juli 1944, auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg überging.

Ungeachtet dieser „enormen Bedeutung Henning von Tresckows in der Geschichte der deutschen Opposition“, so klagt sein Biograph Silvio Kobel, sei ausgerechnet dieser Motor des Widerstands einem breiten, auf Stauffenberg fixierten Publikum „nahezu unbekannt geblieben“. Kein Wunder, da die letzte biographische Annäherung, Bodo Scheurigs Porträt von 1973, vor bald 50 Jahren erschienen ist. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte Tresckow seitdem nur im Vorfeld der berüchtigten Anti-Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, als Christian Gerlach ihm und den anderen Frondeuren der Heeresgruppe Mitte Beteiligung an Kriegsverbrechen vorwarf – bis hin zur Duldung des von SS-Einsatzgruppen ins Werk gesetzten Massenmords an der jüdischen Bevölkerung im besetzten sowjetischen Gebiet. 

In diese immer noch nicht entschiedene Kontroverse möchte Kobel aber genausowenig eingreifen wie er beabsichtigt, die Chronik der Attentate unter Federführung dieses „anderen Stauffenberg“ zu vervollständigen. Stattdessen rückt bei ihm „der Mensch Henning von Tresckow“ in den Mittelpunkt der Darstellung, mit den „grundlegenden Erlebnissen und Erfahrungen, geistigen Wurzeln, die sein Wesen formten“ – einschließlich seiner vor dem Hintergrund eines zeitgeschichtlichen Panoramas entfalteten Widersprüche. Das war vor zehn Jahren, als Kobel mit den Recherchen begann, eine mutige Aufgabenstellung, denn es  schien an „Ego-Dokumenten“, an Aufzeichnungen und Briefen zu fehlen. Über die konspirative Tätigkeit wurde naturgemäß nichts aufbewahrt, und private Papiere gingen 1945 bei der rituellen Brandschatzung von Tresckows Gutsbesitz im neumärkischen Wartenberg durch Soldaten der Roten Armee verloren.

Geistige Fundamente eines prototypischen preußischen Lebens

Notgedrungen mußte der Doktorand sich mündliche Überlieferungen im Netzwerk „letzter“ Zeitzeugen erschließen. Die meisten von ihnen, geboren zwischen 1920 und 1930, haben die Drucklegung des Buches nicht mehr erlebt, ließen dem Autor aber nicht nur „bewegende und beglückende Begegnungen“ zuteil werden und vermittelten ihm mit ihren Berichten niemals aus den Akten zu gewinnende Einblicke in Preußens Welt von gestern. Die über einen langen Zeitraum praktizierte persönliche Befragung, die öfter auch Beherbergung und Beköstigung des jungen Mannes sowie die Lizenz zur Hebung von Schätzen aus Privatarchiven einschloß, aus denen Kobel mit bewundernswertem Fleiß einen „Nachlaß“-ähnlichen Fundus kreiert, erleichterte ihm zudem das Ablegen weltanschaulicher Scheuklappen. Wie sie nach 1945 geborene Historiker gewöhnlich daran hindern, einen Sinn für die Vorstellungswelt vergangener Epochen zu entwickeln. Daher ist der Text erfreulich frei vom nervigen Duktus der Anklage und von öde moralisierenden Aburteilungen. Christian Gerlach und Johannes Hürter, Virtuosen in der Kunst, Historiographie in ein Tribunal zu verwandeln, werden dort dezent abgefertigt, wo sich Kobel denn doch kurz dem Komplex „Widerstand und Heeresgruppe Mitte“ zuwenden muß. Hürter etwa habe seine Mutmaßungen über das „Ranking“ der Widerstandsmotive – zunächst Enttäuschung über den Hitler anzulastenden Fehlschlag des „Blitzsiegs“ in Rußland, dann erst Empörung über den „Judenmord“ – nur aufgrund „völliger Unkenntnis“ der Quellen im „Nachlaß“ Tresckows angestellt. 

Abgesehen von solchen Scharmützeln liegt das Schwergewicht dieser mikrohistorischen Spurensicherung darauf, die geistigen Fundamente eines prototypischen preußischen Lebens zu ermitteln. Wobei Kobel neben der Rekonstruktion des rationalen Anteils am Wertebewußtsein von „preußischer Prägung“ bestrebt ist, auch die „Gemütszustände“ zu vergegenwärtigen, in denen die Vorstellungen über Politik, Wirtschaft, Kultur, kurz: die Ideen, „nach denen ein Volk sein Erdenleben einrichten soll“, gründen. Jedes Weltbild setzt, wie der an Oswald Spengler geschulte Tresckow reflektiert, einen von der kollektiven Psyche geformten Typus Mensch voraus. „Wahres Preußentum“, untrennbar mit dem Christentum verbunden, bilde sich in einer Kette von sinnstiftenden Institutionen, Familie, Schule, Kirche, Armee, in denen die Synthese von Bindung und Freiheit, selbstgewählte Pflichterfüllung im Dienst am Ganzen, „in Fleisch und Blut übergeht“.  

Es ist nicht der geringste Ertrag dieser ersten umfassenden Biographie Tresckows, daß sie heute, wo die globalistischen Zeichen der Zeit auf den finalen Abbau des Menschlichen durch „ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ (Karl Marx) stehen, an die Bedeutung eines solchen „gallischen Dorfes“ erinnert, wie es das ostelbische Preußen cum grano salis denn doch gewesen ist. Nur in diesem „Residualbereich“ einer traditionell-christlich orientierten, nationalstaatlich verfaßten Solidargemeinschaft habe sich der Widerstand gegen den industrialisierten Völkermord an den Juden Europas und die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ mobilisieren lassen, die offenkundig nicht die letzten megalomanen „Projekte der Moderne“ gewesen sind. 

Silvio Kobel: Henning v. Tresckow. Prägende Jahre, geistige Grundlagen, Ambivalenzen. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2021, broschiert, 549 Seiten, 79,90 Euro