© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Lenins Agitation führte die Revolution nicht zum Sieg
Jörg Baberowski deutet in Anlehnung an Carl Schmitt die Russische Revolution als Resultat einer zur Macht entschlossenen Minderheit
Karlheinz Weißmann

Der „Leviathan“ ist ein drachen- oder krokodilartiges Ungeheuer, das in der Bibel an einigen Stellen erwähnt wird. Dort symbolisiert es die schöpfungsfeindlichen Chaosmächte. Anders in der politischen Literatur seit Thomas Hobbes, der sein Hauptwerk unter dem Titel „Der Leviathan“ veröffentlichte. Wofür er einen einzigen Grund hatte: Im Buch Hiob heißt es mit Blick auf den Leviathan: „Keine Macht auf Erden ist der seinen vergleichbar“ (41,25). Das genügte Hobbes, um den Leviathan als geeignetes Symbol des modernen Staates zu betrachten. Eine Verknüpfung, die Carl Schmitt in seinem 1938 zuerst erschienen Werk „Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes“ ausführlich analysiert und kritisiert hat.

Wenn jetzt in der Reihe der Carl-Schmitt-Vorlesungen ein Band zum Thema „Der bedrohte Leviathan“ erscheint, das am Beispiel des revolutionären Rußland behandelt wird, darf man deshalb auf etwas anderes als eine weitere Darstellung der Ereignisse des Jahres 1917 hoffen. Eine Erwartung, die der Verfasser Jörg Baberowski nicht enttäuscht. Denn er hält sich mit den Vorgängen zwischen der „Februar-“ und der „Oktoberrevolution“ kaum auf. Ihm geht es vielmehr um die Klärung der Frage, wie ein Staat, trotz all seiner Machtmittel, quasi über Nacht, fast ohne Gegenwehr, verschwinden kann, seine höchsten Repräsentanten ihrer Posten enthoben, gefangengesetzt und zuletzt getötet werden, und damit ein Schicksal erleiden, das nicht nur der alten Elite, sondern auch großen Teilen der einfachen Bevölkerung bevorsteht.

Zaudern der Gemäßigten und Entschlossenheit der Radikalen

Für eine erste Interpretation nimmt Baberowski Bezug auf eine Aussage Schmitts zur Bedeutung des Ausnahmezustands, wenn er die Revolution als Entsprechung zum „Wunder in der Theologie“ deutet: „weil sie die Vorstellung widerlegt, daß die Welt vom immerwährenden Recht strukturiert wird“. Die Revolution beweist die Fragilität aller staatlichen „Form“. Das ist der Kern ihrer Bedeutung, während die Menge utopischer Erwartungen, die man mit ihr verbindet, letztlich bedeutungslos sind. Die Hoffnung, daß mit der Revolution alles ganz anders werde, erfüllt sich nicht, kann sich nicht erfüllen. Denn die Revolution ist nur „ein eruptives Geschehen (…), das die Menschen in eine unbekannte Welt wirft und sie zwingt, sich nach der Schlacht wieder in all die Hierarchien zu fügen, denen sie entkommen wollten.“

Der Funke, der die Lunte zündet, ist meistens eine Bagatelle. Baberowski weist darauf hin, daß die führenden Beamten des Zarenreichs, aber auch die liberale Opposition durchaus mit Hungerrevolten rechneten und der Unmut des Volkes anfangs kaum mehr war als der Protest gegen die katastrophale Versorgung mit allem Lebensnotwendigen und die dramatische Verschlechterung der Kriegslage. Er bestreitet auch, daß der Fortgang durch das Auftreten geschickter Agitatoren und die Verführung der Massen hinreichend zu erklären ist. Den Ausschlag gaben nach Meinung Baberowskis die Blindheit der Mächtigen, das Zaudern der Gemäßigten und die Entschlossenheit der Radikalen in einem halben Jahr, das den Sturz des „Allherrschers“, den improvisierten Aufbau einer Republik nach westlichem Muster und dann den Putsch der Bolschewiki sah.

Die waren anfangs kaum mehr als eine unter vielen Gruppen der äußersten Linken, die ein Weitertreiben des Umsturzes verlangten, ohne tatsächlich auf Gehör und breite Unterstützung rechnen zu dürfen. Daß sich das änderte durch die Forderung Lenins, den Krieg, koste es was es wolle, zu beenden und das Land der Großgrundbesitzer an die Bauern zu verteilen, ist in der Historiographie unstrittig. Bemerkenswert wirkt aber die Deutung, die Baberowski dem Geschehen gibt, indem er auf die Rolle der Bolschewiki als entschlossene Minderheit hinweist, die sich in unübersichtlicher Situation als einzige Kraft erwies, die nicht nur ein Ziel hatte, sondern auch entschlossen war, alles zu tun, um sich jenes Mittel zu verschaffen, das notwendig war, um das Ziel zu erreichen.

Dieses Mittel war: Macht. Und wahrscheinlich überrascht kaum etwas so sehr an Baberowskis Buch wie seine Bereitschaft, immer wieder auf diesen Faktor zurückzukommen und deutlich zu machen, daß es im Hinblick auf die Politik zuerst und nicht nur zuerst um Macht geht: Machtgewinn und Machterhalt. Deren Verkennung ist seiner Meinung nach der entscheidende Fehler des Liberalismus wie des Totalitarismus. Während ersterer die Macht leugnet, liefert sich letzterer mit der „souveränen Diktatur“ – auch das ein Begriff Schmitts – der Macht vollständig aus und löst sie von den politischen Zwecken im eigentlichen Sinn. 

Die tiefere Ursache für diese Fehlleistung liegt nach Baberowski darin, daß Liberalismus und Totalitarismus keinen Begriff vom Wesen des Menschen haben. Auch wenn er nicht wie Schmitt auf die Lehre von der Erbsünde zurückgreift, teilt er doch die Auffassung, daß es in dieser Welt keine Möglichkeit gibt, dem zu entkommen, was zu den Zwängen unserer individuellen wie kollektiven Existenz gehört. Wahrscheinlich würde Baberowski auch nicht widersprechen, wenn man seinen Vorschlag, auf diese Einsicht zu reagieren, genuin konservativ nennt. In jedem Fall ist sein Gedankengang der eines Konservativen, wenn er betont, daß letztlich nur „Mythen, Traditionen und Gewißheiten“ unserem Dasein den notwendigen Halt geben und jeder Versuch, das zu leugnen, in einem Desaster enden muß: „Die Rebellion gegen die Tatsachen aber ist sinnlos. In Wahrheit halten die Ketten, an die jede Existenz geschmiedet ist, das Leben in der Verankerung. Man kann sie ölen, geschmeidiger machen, aber man kann sich ihrer nicht entledigen. Man müßte sich sonst selbst wegwerfen.“

Jörg Baberowski: Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Rußland. Carl-Schmitt-Vorlesungen, Band 3, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2021, broschiert, 126 Seiten, 26,90 Euro