© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Anti-Kolonialismus vor hundert Jahren: Systemkritik statt Rassismus
Böse weiße Londoner City
(ob)

Der Medienlärm, den derzeit das Thema „Kolonialismus, Rassismus, weiße Schuld“ erzeugt, ist schon deshalb nicht aufregend, weil er nicht neu ist. Bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte eine ähnliche Debatte auf breiter Front, freilich mit wesentlich mehr intellektuellem Tiefgang, in der britischen Öffentlichkeit ein. Darin finden sich bereits die meisten Denkfiguren des aktuellen Diskurses. Daran erinnert der auf die Geschichte des Britischen Empire spezialisierte, 2007 über Kolonialismus-Kritik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert habilitierte Historiker Benedikt Stuchtey (Marburg) in seiner Studie über die Legitimationskrise, in die die Verteidiger der weltumspannenden britischen Kolonialherrschaft nach dem „Great War“ gerieten (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 3/2021). Im Unterschied zu heutigen, moralistisch-rassististisch pauschal gegen „Weiße“ hetzenden Agitatoren sprachen die Vordenker des damaligen Anti-Kolonialismus über die ökonomischen Ursachen des Imperialismus. Die Londoner City, wie überhaupt internationale Finanzmärkte und letztlich das kapitalistische System trugen für Publizisten wie George Bernard Shaw oder Frank Harris die Hauptverantwortung für „Hunger und Armut zwischen Kairo und Kalkutta“ sowie für die permanente „globale Instabilität“. 


 www.mmz-potsdam.de