© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Keine braunen Kommissare
NS-Führungsoffizier: Der Weltanschauungssoldat bleibt in der Wehrmacht ein Randphänomen
Erich Körner-Lakatos

Im russischen Bürgerkrieg greift die Rote Armee bei ihrem Führungspersonal auch auf frühere zaristische Offiziere zurück. Freilich gelten die Kommandeure als politisch unzuverlässig, daher stellt ihr Gründer Leo Trotzki jedem dieser Offiziere einen loyalen Bolschewiken als Aufpasser zur Seite. Diesem Politruk (Abkürzung für „politikscheskij rukowaditelj“), auf Bataillonsebene auch Politkommissar, muß der Truppenführer jeden Befehl zur Gegenzeichnung vorlegen.

In der deutschen Wehrmacht gilt der Grundsatz der Alleinverantwortung des Kommandeurs. Daher führen 1940 die Ideen des Chefideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg, Schulungsredner der Partei sollten in Kasernen, Fliegerhorsten und Ausbildungslagern eingesetzt werden, zu einem Veto der Wehrmachtsführung, die den Verdacht hegt, damit werde der erste Schritt zu einem Kommissar-System gesetzt. Die hohe Kampfmoral des deutschen Landsers, so das Offizierskorps, sei nicht Ausdruck einer weltanschaulichen Haltung, sondern Folge eiserner Disziplin und solider Ausbildung. 

Nach dem Sieg im Westen gegen Frankreich fühlen sich Deutschlands Soldaten am Beginn des Unternehmens Barbarossa den Rotarmisten  überlegen. Sowjetische Flugblätter belustigen die Truppe, die Lautsprecher der Russen, mit denen KPD-Emigranten wie Walter Ulbricht mit sächselnder Fistelstimme an den deutschen Proletarier appellieren, sorgen für Heiterkeit. Ein paar Monate darauf nehmen Schlamm und Schneestürme den Soldaten viel von ihrem Selbstvertrauen. Daraufhin installiert die Heeresgruppe Mitte auf Armee- und Divisionsebene sogenannte Betreuungsoffiziere, die sich hauptamtlich um Moral und Weltanschauung kümmern sollen. Mit Befehl vom 15. Juli 1942 setzt das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) bei allen Kommandobehörden „Sachbearbeiter für wehrgeistige Führung“ ein. 

Einzelne Kommandeure werden von sich aus tätig, ein Beispiel dafür ist Ferdinand Schörner, der dem XIX. Armeekorps vorsteht und am 1. Februar 1943 einen Sonderbefehl erläßt, in dem es heißt: „Der Soldat muß klar die nationalsozialistische Idee erkennen und mit leidenschaftlicher Überzeugung in Wort und Tat kämpfen.“ 

Während Stalin Ende 1942 die Befugnisse der Politruks auch deshalb einschränkt, weil sie die militärische Effektivität behindern, entdeckt die deutsche Seite deren Vorteile. Im SS-Hauptamt erscheint die Denkschrift „Die politische Erziehung in der Roten Armee“. Darin ist die Rede vom entscheidenden Einfluß der politischen Propaganda auf die Kampfkraft der Sowjets, dem müsse eine noch bessere wehrgeistige Führung des deutschen Soldaten entgegengestellt werden. Reichsminister Joseph Goebbels erklärt vor Generälen: „Wenn heute der Bolschewismus zu großen Schlachten antritt, dann stellt sich der politische Kommissar (...) vor die Kompanie und sagt ihr, worum es geht, ganz klar und eindeutig, dem primitivsten russischen Bauernsohn verständlich: Es geht um die bolschewistische Anschauung.“ 

Hitler will weltanschauliches „Kritisieren und Nörgeln“ ahnden

Der Führerbefehl vom 22. Dezember 1943 ist die Geburtsstunde des NS-Führungsoffiziers, kurz NSFO. In der Präambel heißt es: „Für die nationalsozialistische Führung der Wehrmacht befehle ich: Im fünften Kriegsjahr ist die politisch-weltanschauliche Führung und Erziehung der Truppe in verstärktem Maße durchzuführen. (...) Im OKW ist ein NS-Führungsstab zu bilden. Dessen Chef handelt in Durchführung seiner Aufgaben in meinem unmittelbaren Auftrage. Er hat das Einvernehmen mit der NSDAP als der Trägerin des politischen Willens herzustellen.“

General Hermann Reinecke, Chef des NS-Führungsstabes, meldet sich am 7. Januar 1944 zum Vortrag im Führerhauptquartier und meint, Intellektuelle und Wissenschaftler wolle er als NSFO nicht einsetzen. Adolf Hitler stimmt dem mit den Worten „Die sind völlig wertlos und schädlich!“ zu und ergänzt grundsätzlich: „Die Sache hat nur dann einen Sinn, wenn klargestellt wird, daß jedes Kritisieren und Nörgeln an Anordnungen, die auf weltanschaulichem Gebiet ergehen, genauso geahndet wird wie das Kritisieren an taktischen und sonstigen militärischen Dingen“.

Im Februar 1944 erläßt General Reinecke vorläufige Richtlinien. Danach ist der Kommandeur Träger der nationalsozialistischen Führung. Er trägt allein die Verantwortung. Ihm unterstellt ist der NSFO, der auf Anordnung Vorträge und Lehrgänge abhält, aktuelle politische Fragen behandelt und politisches Gedankengut vermittelt. Überdies soll der NSFO die Soldaten gegen die Propaganda des „Bundes Deutscher Offiziere“ immunisieren. Dieser Bund besteht aus Stalingrad-Generälen, die nach ihrer Gefangennahme die Seite wechseln und deutsche Soldaten zur Fahnenflucht ermuntern. Vorsitzender ist der Artilleriegeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach. 

Am 8. März 1944 beginnt der erste Lehrgang für NSFO-Anwärter im pommerschen Crössinsee. Laut einem Bericht der Parteikanzlei Martin Bormanns sind am Jahresende 1944 in der Wehrmacht 1.074 hauptamtliche Führungsoffiziere tätig, von denen bloß 556 Parteimitglieder sind. Als nebenamtliche NSFO fungieren rund 43.000 Offiziere im Heer, bei der Luftwaffe 3.452 und bei der Kriegsmarine etwa 900. Berühmte Vertreter dieser nebenamtlichen NSFO waren Franz Josef Strauß, der als „Offizier für wehrgeistige Führung“ bei der Flakartillerieschule Altenstadt tätig war, oder der Schriftsteller Hans Hellmut Kirst, der im April 1945 Strauß’ Nachfolger an dieser Schule wurde. 

Interne Berichte des NS-Führungsstabes über die Wirkung der politischen Arbeit in der Truppe klingen allerdings ernüchternd. Dort wird nicht die weitverbreitete Verständnislosigkeit verschwiegen, der sich die NSFO seitens ihrer Kameraden gegenübersehen. Deren Ursache, so der Autor, liege in der preußischen Soldatentradition der allermeisten Stabsoffiziere, die unter ihresgleichen die ohnehin nicht weisungsbefugten NSFO abschätzig als Politruks bezeichnen.

Trotz des zahlenmäßig doch recht beachtlichen Kontingents an NS-Führungsoffizieren kann die neue Einrichtung in den letzten Kriegsmonaten wenig Einfluß gewinnen. Die entscheidenden Faktoren für den Widerstandswillen der Wehrmacht in der letzten Phase des Krieges sind vielmehr die Unerbittlichkeit der Kriegsführung, besonders im Osten, und das Vorbild des Truppenführers sowie der Kameradschaftsgeist der Einheit, der um so höher ist, je länger die Soldaten zusammenstehen.

Foto: Sowjetischer Politkommissar hält 1944 Rede vor Komsomolzen, Chef des NS-Führungsstabes Hermann Reinecke (o.): „Der Kriegskommissar ist Vater und Seele seines Truppenteils“