© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Auf dem Weg zur Hegemonie
Zaghafte Annäherungen deutscher Geowissenschaft an die Militärmacht China
Peter Seidel

China rückt zunehmend in den Fokus – der USA, der Nato, der EU, und der internationalen Beziehungen. Dennoch wird hierzulande gern beklagt, welche „geringe Aufmerksamkeit das Land als Forschungsobjekt deutscher Wissenschaftler bislang erregt“. Ist das so? Ein weiterer Fall von außenpolitischem Autismus in unserem Land? Zwei Neuerscheinungen zum Thema zeigen durchaus noch Verbesserungsmöglichkeiten, jedenfalls bei der geopolitischen Einordnung. Dies gilt vor allem für den Sammelband von Johannes Klenk und Franziska Waschek über „Chinas Rolle in einer neuen Weltordnung“, aus dem das Eingangszitat stammt, mit Abstrichen auch für das schmale, aber instruktive Bändchen von Lutz Unterseher über die „Militärmacht China“.

Diese Militärmacht Chinas läßt sich zumindest bislang und auch auf absehbare Zukunft noch bei weitem nicht mit der deutlich größeren der USA vergleichen, doch mit weiter steigendem Wirtschaftspotential ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich dies ändern dürfte. Längst sehen die USA in ihrem fernöstlichen Gegenüber mehr den Rivalen als den Partner. Und dies erklärt auch den Untertitel in Untersehers Buch, die Frage „Auf dem Weg zur Hegemonie?“ Im Zentrum stehen dabei Stand und Entwicklungsperspektiven der chinesischen „Volksbefreiungsarmee“, zu Lande, zu Wasser, in der Luft, im Weltraum, im Internet, in der Region. Eingebettet in Fragen nach dem Verhältnis zur innenpolitischen Funktion chinesischer Streitkräfte bis hin zum Wechselverhältnis von „Dominanzstreben und Einkreisungsfurcht“ im dritten Kapitel.

Angesichts weltweiter nuklearer Aufrüstung von besonderem Interesse sind die Ausführungen zur chinesischen Atomstreitmacht, die unter den bezeichnenden Titel „weise Selbstbeschränkung“ gestellt werden. Deutlich wird dabei, daß China nach wie vor dem Konzept der Minimalabschreckung folgt, diese also „offenbar nicht als Kriegführungsmittel, sondern als letzte Rückversicherung gegen eine entsprechende Bedrohung“ nuklearer Mächte ansieht. China habe bisher, so Unterseher, anders als die USA und Rußland, „kein Interesse an einem atomaren Wettrüsten (...), an einem Ringen um die Eskalationsdominanz“, also der Fähigkeit zu Entwaffnungs- und Enthauptungsschlägen. 

Die Erosion des internationalen Multilateralismus steht fest

Das Büchlein bietet eine lesenswerte, knappe Einführung in die Thematik, auch wenn die Beantwortung der Titelfrage nach der hegemonialen Absicht im Epilog doch zu wünschen übrig läßt. Diese Frage läßt sich auf den dafür bereitgestellten ganzen drei Seiten schlichtweg nicht zufriedenstellend beantworten, zumal die Dinge noch sehr im Fluß sind. Sehr interessant und erwähnenswert sind dann die drei Fallstudien von Sascha Lange im Anhang, die in internationalen Vergleichen exemplarisch auf Entwicklungen der traditionellen chinesischen Teilstreitkräfte eingehen und als Beispiele technologischen Lernens Entwicklung und Potentiale Chinas im militärischen Bereich (Kriegsschiffe, Panzer) aufzeigen. Wohl fast schon überflüssig zu erwähnen, daß beide deutschen Autoren Deutschland nirgends zum Vergleich heranziehen. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Bundesrepublik international jedenfalls militärisch längst um eine quantité négligeable.

Im Unterschied zu Unterseher versucht die andere von Klenk und Waschek herausgegebene Neuerscheinung erst gar nicht, die im Titel aufgeworfene geopolitische Frage zu behandeln – weder geht es um die „neue Weltordnung“, noch um „Chinas Rolle“ darin, sondern darum, „gemeinsam mit der regionalen Wirtschaft“ im Umfeld der baden-württembergischen Universität Hohenheim „in einen beiderseitigen Prozeß des Wissens-transfers“ zum Thema China einzusteigen. Das ist zwar durchaus förderungswürdig, rechtfertigt aber überhaupt nicht den Titel, der somit völlig in die Irre führt. In einer auch sprachlich bunten Mischung aus deutschen und englischen Beiträgen geht es vornehmlich um Wissenschaft und Handel. Thematisch handelt es sich um ein Sammelsurium von Beiträgen zur Covid-Pandemie, über die Welthandelsorganisation, künstliche Intelligenz bis hin zu Beiträgen über Entwicklungshilfe durch internationale Autoren. Ausführungen zu „interkultureller Kompetenz“ oder „Aspekten der deutschen „China-Naivität“ sind leider nicht sehr aussagekräftig. Kein Wunder, daß auf ein Fazit am Ende des Sammelbandes verzichtet wird. 

Zuzustimmen ist allerdings der grundsätzlichen Feststellung der Herausgeber von der „Erosion des internationalen Multilateralismus“, ebenso wie der Einsicht, daß die „offizielle Linie der Bundesrepublik Deutschland“ hinsichtlich der Beziehungen zur Volksrepublik China von der Berliner Politik „verminte Felder“ beinhalte. Zahlreiche Themen „werden vermieden oder sind gleichsam tabuisiert.“ Angesichts des Zustands deutscher Außenpolitik kann dies nicht überraschen, spiegelt aber auch objektive Zwänge und Abhängigkeiten. Für den normalen Zeitungsleser wie den Chinainteressierten dürfte der angestrebte „Einblick in Chinas Wissenschafts- und Innovationssystem“ allerdings eher am Rande seines Blickfeldes bleiben. 

Insgesamt entsteht der Eindruck, daß die deutsche universitäre China-Forschung auch weiterhin durchaus ausbaufähig bleibt und dringend vertieft und systematisiert werden sollte, gerade auch, um die deutsch-chinesischen ökonomischen Verflechtungen im Hinblick auf die anhebende Konfrontation zwischen dem Bündnispartner USA und dem Wirtschaftspartner China stärker auf systemische Konflikte hin abzuklären. Vorhandene Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik können und sollten hier hilfreich sein und als Grundlage für die weitere Arbeit dienen, gerade weil dieser Berliner Thinktank den von Klenk und Waschek ausgelassenen geopolitischen Rahmen liefert. Dies vor allem, weil die Europäer und insbesondere Deutschland zu einem Spagat gezwungen werden könnten, der strategische Entscheidungen letztlich so oder so erzwingen könnte. 

Johannes Klenk, Franziska Waschek (Hrsg.): Chinas Rolle in einer neuen Weltordnung. Wissenschaft, Handel und internationale Beziehungen.Tectum Wissenschaftsverlag, Baden-Baden 2021, broschiert, 308 Seiten, 58 Euro

Lutz Unterseher: Militärmacht China. Auf dem Weg zur Hegemonie? Tectum Wissenschaftsverlag, Baden-Baden 2020, broschiert, 150 Seiten, 28 Euro

Foto: Soldaten der chineischen „Volksbefreiungsarmee“ gedenken mit Blumen am „Denkmal für die Helden des Volkes“ an die Opfer der revolutionären Kämpfe, Peking am 30. September 2021: Wechselverhältnis von Dominanzstreben und Einkreisungsfurcht