© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Vom Klimawandel hypnotisiert
Landhunger, Afrikas Bevölkerungsexplosion, das Artensterben und das Tempo der Entwaldung
Christoph Keller

Die Frage „In welchen Regionen schwinden die Wälder?“ beantwortet Jürgen Blaser klar: in Afrika und Südamerika. Der Professor für internationale Waldwissenschaft an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen in der Schweiz muß es wissen. Der Eidgenosse ist seit vierzig Jahren in vielen Ländern als Berater zu Waldfragen tätig. Aber gerade weil er seit langem so tief in dieser komplexen Materie zu Hause ist, fallen seine Antworten auf die nächste Frage des auf Entwicklungspolitik spezialisierten Magazins Welt-Sichten (4-5/21) merklich unklarer aus: „Was sind die Ursachen der Waldverluste?“

In Südamerika ist es der Landhunger der boomenden Agrarexportwirtschaft: der am Weltmarkt orientierten Viehzucht und des Sojaanbaus für China und zunehmend auch Europa. Aus Tropenwäldern werden Viehweiden und Felder. In Malaysia und Indonesien ist die Gier nach Palmöl der Haupttreiber der Abholzung, während in Westafrika der Urwald häufig Kakaopflanzungen weicht. Andererseits seien es aber nicht allein die Nahrungsmittelkonzerne und die „Konsumnachfrage in reichen Ländern“, mit denen sich der von schwachen und korrupten Behörden begünstigte Zugriff auf Waldland, Holz oder Bergbaukonzessionen erklären lasse. Nicht nur in Brasilien sei der Landhunger der Kleinbauern, die für den eigenen oder lokalen Bedarf produzieren, kräftig am Raubbau im Regenwald beteiligt.

In Afrika, in milderer Form auch in Südostasien, rangiere diese Subsistenzlandwirtschaft als „Waldkiller“ sogar noch vor der Kahlschlag-Strategie von „Global Playern“, denen die Biodiversitätskonvention (CBD) so gleichgültig sei wie die UN-Nachhaltigkeitsziele für 2030. Den Vormarsch landsuchender Kleinbauern in Afrikas Waldzonen führt Blaser daher zutreffend auf die gern tabuisierte Bevölkerungsexplosion zwischen Kairo und Kapstadt zurück. 1948 lebten nur 200 Millionen  Menschen auf dem schwarzen Kontinent, heute sind es 1,3 Milliarden – bis 2050 wird sich die Bevölkerungszahl dem „World Population Prospects 2019“ der Uno zufolge nochmals verdoppeln.

Ein interdisziplinäres Großprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über „Ökosysteme am Kilimandscharo im globalen Wandel“ (Kili-SES), das im Frühjahr 2020 mit Millionenaufwand verlängert worden ist, bestätigt Blasers Ursachenanalyse – wenn auch eher unbeabsichtigt (DFG-Jahresbericht 2020).

Die Lage am höchsten Berg Afrikas spitze sich zu, warnt die Projektleiterin, die Frankurter Biologieprofessorin Katrin Böhning-Gaese (Senckenberg Biodiversität und Klima-Forschungszentrum/SBiK-F). Wo vor dem Ersten Weltkrieg, als die 5.895 Meter hohe Kaiser-Wilhelm-Spitze noch zu Deutsch-Ostafrika gehörte, kaum 100.000 Menschen lebten, sind es inzwischen 1,2 Millionen. Und sie alle bräuchten das Umland des Giganten, um als Kleinbauern, Plantagenarbeiter oder Touristenführer im Nationalpark ihre Existenz zu fristen. Daher nehme der Nutzungsdruck auf das mitunter noch schneebedeckte Bergmassiv zu.

Aus falscher Diagnose folgt eine untaugliche Therapie

Obwohl Böhning-Gaese diesen Druck mitsamt verheerender ökologischer Folgen für Fauna und Flora akkurat aus der auf dem heutigen Territorium Tansanias in hundert Jahren um 1.200 Prozent gestiegenen Bevölkerung herleitet, scheint das für ihre Erkenntnisinteressen, die sich auf „Handlungsoptionen für Politik und Gesellschaft“ in dem von Massenarmut geplagten ostafrikanischen Staat richten, irrrelevant zu sein.

Nicht die Bevölkerungsexplosion ist darum für sie die Stellschraube, an der es zu drehen gelte, sondern der Klimawandel. Nicht die Okkupation natürlicher Lebensräume durch immer mehr Menschen sei schuld am Artenschwund in den Savannen und Wäldern rund um den Kilimandscharo, sondern die Erwärmung der Erdatmosphäre. Also resultiert bei ihr aus solch einseitiger Diagnose auch eine untaugliche Therapie. Die in der typisch bundesdeutschen Hybris gipfelt, mit ihrem Forschungsprojekt eine „Win-win-Situation schaffen“ zu können. Die entstünde, wenn man den klimabedingten Verlust der Artenvielfalt stoppe, indem man die aktuell jedes Maß sprengende Landnutzung vor den Karren der „Ökosystemdienstleistung“ spanne. Mit Biolandbau am höchsen Berg Afrikas, so suggeriert die 56jährige Vizepräsidentin der Leibniz-Gemeinschaft, verkrafte die Natur dort dann womöglich noch weitere Millionen Siedler.

Ganz so naiv ist ihr Fachkollege aus dem Kanton Bern nicht. Obwohl auch Blaser sich mit resignativem Unterton auf Vorschläge beschränkt, die nur Symptome kurieren sollen. Um den Wäldern zu helfen, müsse nicht bei den Flächen, sondern bei den Produkten, für deren Herstellung Naturwälder fallen, angesetzt werden: bei Rindfleisch, Soja, Holz, Palmöl, Kakao. Produktstandards und Zertifizierung, an deren Entwicklung Blaser maßgeblich beteiligt war, könnten nachhaltige Erzeugung ohne Entwaldung garantieren. In der Theorie, aber nicht in der Praxis, wie Blaser inzwischen erfahren hat. Das „gute Konzept“ verfing im globalen Süden nicht. Weniger als zehn Prozent der forstwirtschaftlich genutzten Fläche in Tropenwäldern sind zertifiziert.

Und wie stehen die Chancen, dem demographisch induzierten Flächenfraß mit „großen Aufforstungen“ beizukommen? „Ihr Anteil an der globalen Waldfläche ist gering“, lautet das ernüchternde Fazit. Es gebe zwar Erfolgsbeispiele. So sei es China gelungen, in der riesigen Trockenprovinz Innere Mongolei einen Grüngürtel anzulegen, um Sandstürmen und der Wüste zu trotzen. In Ghana und Costa Rica dehnten sich Wälder wieder aus, weil man eingesehen habe, wie nötig sie sind, um Wasser und Landwirtschaft zu schützen. Die meisten Aufforstungsprogramme blieben aber hinter ihren Zielen zurück.

So wollen Subsahara-Staaten seit 2009 eine „Große Grüne Mauer“ am Sahel quer durch den Kontinent errichten. Begrünt sind bisher jedoch nur vier Prozent der geplanten Fläche. „Immerhin“, lobt Welt-Sichten-Chefredakteur Bernd Ludermann, denn angesichts von Dürren, Kriegen und Mangel an Hilfe von außen sei nicht viel mehr zu erwarten gewesen. Überdies, so monieren manche Ökologen, sei es nicht ratsam, in den Trockensavannen des Sahel-Gürtels Wälder zu pflanzen. Blaser hält es für sinnvoller, bestehende Wälder zu schützen. Dafür aber sei es wichtig, die eigentlichen „Antreiber von Waldverlusten“ ins Visier zu nehmen. Womit der Berner Waldwissenschaftler, soweit er primär Afrika ins Kalkül zieht, nicht den Klimawandel, sondern nur die Bevölkerungsexplosion meinen kann.

Ökosysteme am Kilimandscharo im Wandel:

 kili-ses.senckenberg.de

 www.dfg.de