© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Enteignungen sind jetzt sexy
Privateigentum ist ein Eckpfeiler unserer freiheitlichen Gesellschaft. Es verpflichtet zu Haftung und Verantwortung. Wenn der Staat es abschöpft, um die Finanzlöcher zu stopfen, bremst er die Initiative.
Reiner Osbild

Berlin sei arm, aber sexy, erklärte der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit 2003. Nun fordert die Hauptstadt die Enteignung großer Wohnungskonzerne, um attraktiv zu bleiben. In einer Volksabstimmung votierten über 56 Prozent der Berliner dafür. Sie erhoffen sich davon ein besseres und preisgünstigeres Angebot an Wohnraum. Ist das ein Einzelfall oder ein Fanal?

Fakt ist, Enteignungen sind nicht mehr tabu. Im Grundgesetz sind sie bereits vorgesehen – wenn auch entschädigungspflichtig. Unzählige Male wurden sie auch umgesetzt, wenn etwa renitente Grundstücksbesitzer das letzte Teilstück einer Autobahn zu blockieren drohten. Es ging in solchen Fällen um eine Abwägung Gemeinwohl gegen Einzelinteresse. Die Enteignungen, die auf uns zukommen könnten, werden diesen Rahmen aber sprengen.

Privateigentum ist ein konstitutives Element unserer sozialen Marktwirtschaft. Es beinhaltet Verantwortung und Haftung, und der unter Beachtung aller Risiken möglichst gewinnbringende Einsatz von (Geld-)Vermögen ist ein wichtiger Baustein im marktwirtschaftlichen Kapitalmarkt. Schließlich sind freie, selbstbewußte, demokratisch denkende und handelnde Bürger ohne Recht auf Privateigentum undenkbar; sie wären sonst Sklaven einer staatlichen Nomenklatura, die sie mehr schlecht als recht versorgt. Rechtsgarantien für das Privateigentum waren der Treiber marktwirtschaftlicher Reformen, die nicht nur in Asien Hunderten von Millionen Menschen aus der Armut verhalfen.

Daher wäre eine kluge Regierung gut beraten, Eingriffe in das Privateigentum auf das Nötigste zu beschränken, wie im Beispiel oben. Jedoch wird eine zunehmende Enteignung auch immer stärker gefordert, um noch mehr Umverteilung zu finanzieren, und höhere Staatsausgaben zu finanzieren. Beide Motive hängen oft eng miteinander zusammen.

Aber braucht Deutschland überhaupt drastische Eingriffe? Immerhin sehen die deutschen Staatsschulden mit rund 70 Prozent des BIP, trotz coronabedingter Schuldenorgie, immer noch besser aus als in vielen anderen großen Industriestaaten. Sollte die Wirtschaft wieder in Schwung kommen, werden auch die Steuereinnahmen wieder sprudeln. Vor Corona betrugen sie in der Summe immerhin stolze 826 Milliarden Euro.

Dennoch: Deutschland steuert auf erhebliche Finanzlöcher zu. Die sogenannte implizite Staatsverschuldung beträgt heute schon circa 370 Prozent des BIP. Sie umfaßt ungedeckte Zahlungsverpflichtungen, etwa für Renten und Pensionen. Implizite und explizite, also am Kapitalmarkt aufgenommene Verbindlichkeiten, belaufen sich zusammen auf rund 14,7 Billionen Euro. Außerdem hat noch die Regierung Merkel der EU Beitragszahlungen von brutto 42 Milliarden Euro bis 2028 zugesagt. Auch viele Eventualverbindlichkeiten aus den diversen Rettungspaketen könnten sich am Ende zu hohen Verlusten materialisieren. Zugleich droht der Arbeitsmarkt quantitativ und qualitativ – Stichworte sind „geburtenschwache Jahrgänge“ und „Bildungsmängel“ – in schweres Fahrwasser zu geraten.

Enteignungen können in einem modernen Wohlfahrtsstaat in erster Linie durch Steuern bewerkstelligt werden. Mindestens zwei der drei Wahlgewinner, SPD und Grüne, liebäugeln mit einer erhöhten Erbschaftsteuer und der Wiedereinführung der Vermögensteuer. Beide Steuern müssen aus der Substanz statt aus laufendem Einkommen beglichen werden. So kann das Erbe eines Einfamilienhauses in München schnell die Freibeträge sprengen. Das Haus muß in solchen Fällen oft verkauft werden, um die Forderungen des Fiskus zu befriedigen.

Wenn aber massenweise Vermögensgüter – Häuser, Edelmetalle, ja ganze Betriebe – aufgrund einer enteignungsgleichen Steuerforderung veräußert werden müssen, dann werden die (reichen) Käufer ein Schnäppchen machen. Die Vermögensverteilung wird ungleicher, der Mittelstand blutet aus. Schlimmer noch: Leistungsanreize gehen verloren, Arbeitsangebot und Risikobereitschaft sinken. Schon heute hinkt Deutschland in Sachen Start-ups dem Gros der Industrieländer hinterher.

Aber auch die Steuern auf Einkommen und Verbrauch sind geeignet, die Menschen tendenziell zu enteignen. Alleinstehende tragen jetzt schon eine der höchsten Abgabenlasten weltweit, bei Familien ist es nur geringfügig besser. Die absehbare Besteuerungsorgie für Energie – Strom, Gas, Erdöl, Kohle – wird die Haushalte an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bringen, zumal sie zusätzlich dem Preisrisiko der Weltmärkte ausgesetzt sind. Zwar wird eine Kompensationszahlung erwogen, doch droht damit eine gewaltige zusätzliche Umverteilungsmaschinerie in Gang gesetzt zu werden, die den öffentlichen Dienst aufbläht und somit die Finanznöte des Staates langfristig verstärkt.

Das Prinzip der scheinbar bequemen Finanzierung über die Druckerpresse ist längst auch in Deutschland angekommen. Die EZB hält dem Vernehmen nach schon rund ein Drittel der deutschen Staatsanleihen. Geld wird gedruckt, als gäbe es kein Morgen. Dennoch ist Vorsicht geboten: Sollte in einem der großen Wirtschaftsräume, beispielsweise den USA, die Zinswende eingeläutet werden, wird sich Europa dem kaum entziehen können. Höhere Zinsen auf die öffentlichen Anleihen werden jedoch entweder höhere Steuern nach sich ziehen oder eine noch stärkere EZB-Finanzierung mit Geld aus dem Nichts. 

Die Druckerpresse ist ein süßes Gift, gaukelt sie doch vor, die Ziele höherer Staatsausgaben und einer „gerechteren“ Umverteilung wären ohne enteignungsgleiche Maßnahmen machbar. Dies wird sich als Irrtum herausstellen, da die monetär alimentierte öffentliche Verschuldung in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder in Inflationen mündete. Auch heuer steigen die Preise für den typischen Warenkorb. Auf den Immobilien-, Aktien- und Anleihemärkten sind sie schon längst den fundamentalen Bewertungen enteilt.

Eine Inflation vernichtet den realen Wert sowohl der Guthaben als auch der Schulden – es ist insofern eine Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern. Wenn ich meinem Cousin 40.000 Euro für ein Auto leihe und er zahlt mir das Geld nach Jahren der Hyperinflation zurück, kann ich mir für genau diesen Betrag eben keinen Wagen mehr kaufen, sondern nur noch, beispielsweise, ein Moped oder ein ­E‑Bike. Ein ganz schlechter intertemporaler Tausch. 

Einige wenige Formen der Enteignung, die oft nicht als solche kenntlich gemacht werden, sind wertmindernde Regulierungen. So kann der Abstand von Windrädern zu bebautem Gebiet so weit herabgesetzt werden, daß den Grundstückseigentümern Wertverluste beschert werden. Dies ist die Folge von negativen Nebenwirkungen der Windenergie wie Lärm und Schattenwurf.

Enteignung kann auch Humankapital betreffen. Die langen Ausbildungswege, die deutsche Ingenieure in der Automobilindustrie zurückgelegt haben, sowohl an Hochschulen als auch „on the job“, können mit der regulierungsbedingten Verdrängung des Verbrennungsmotors durch die Batterie entwertet werden. Das bedeutet, daß berufliche Spezialisierungen, die ein spezifisches und womöglich einmaliges Humankapital bedeuten, am Arbeitsmarkt schlicht nicht mehr nachgefragt werden – die Fachkraft muß einen schlechter bezahlten Job annehmen. Quasi-enteignet werden auch Forscher, etwa in den Sektoren Automobilbau und Energie.

Entwertungen des Realkapitals sind schon in vollem Gange. Man denke an hochmoderne, hocheffiziente, aber stillgelegte Gaskraftwerke. Der Enteignung der Betreiber der Kernkraftwerke durch den Par-ordre-du-mufti-Beschluß von Angela Merkel, die wegen Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie beschleunigte, wurde noch soeben vom Bundesverfassungsgericht abgemildert und kostete Milliarden. Ebenso bedauerlich ist der Verlust an Forschungs-Know-how, denn bei den neueren Technologien der Kernenergie sind Deutschlands kluge Köpfe außen vor.

Enteignungen sind eine Notmaßnahme, die vielleicht in der Nachkriegsphase gerechtfertigt war, um Zufälligkeiten auszugleichen, die durch den Erhalt des Eigentums des einen und die Zerstörung des Eigentums des anderen entstanden waren. In Friedenszeiten zerstören sie Unternehmergeist, Arbeitseifer, Bildungsanreize und Geldwertstabilität – Parameter, die für unseren zukünftigen Wohlstand von zentraler Bedeutung sind. 






Prof. Reiner Osbild, Jahrgang 1962, ist Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Emden/Leer und arbeitete im Kapitalmarktgeschäft großer Geldhäuser.