© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/21 / 29. Oktober 2021

Der Euro schmilzt in der Mittagshitze
Der Euro führt die wirtschaftlich nicht konkurrenzfähigen Südländer immer tiefer in die Abhängigkeit von immer größeren Geldabflüssen aus dem Norden.
Joachim Starbatty

Mez­zo­gior­no“ meint wörtlich die Mitte (mezzo) des Tages (giorno), also die Zeit, wenn der Sonnenstand die Arbeit unter freiem Himmel am meisten erschwert. „Mez­zo­gior­no“ steht auch für eine duale Wirtschaftsform, in der der reichere Landesteil den ärmeren alimentiert, ohne daß aber die Kluft zwischen ihnen geschlossen wird. Als in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus einem Flickenteppich eine Nation geformt wurde, trafen der schon damals hochentwickelte industrielle Norden und der agrarisch geprägte Süden – der Landstreifen des Mez­zo­gior­no, der dem ehemaligen Königreich beider Sizilien entspricht – aufeinander. Der nach der Vereinigung für ganz Italien geltende Wechselkurs war für den international konkurrenz-fähigen und freihändlerisch eingestellten Norden angemessen, aber nicht für den Süden. Dessen industrielle Anfänge wurden wegen des erdrückenden Wechselkurses erstickt. Der Süden wurde so dauerhaft abgehängt. Finanzielle Kompensationen insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg konnten das nicht abmildern. Die Kluft blieb.

Das ist genau das, was wir zur Zeit in der Euro­zone erleben. Der Euro, der für die einen – wie Deutschland und die Niederlande – zu niedrig und für die südliche Peripherie zu hoch bewertet ist, spaltet die Eurozone. Das kann jeder im Europäischen Parlament erleben, wo sich die Abgeordneten aus der südlichen Peripherie darüber beklagen, daß ihre Jugend auf dem Altar Europas geopfert werde. Sie hat keine Zukunftsperspektive. Aber die Abgeordneten verschließen ihre Augen vor der Tatsache, daß die Ursache dafür in der Existenz des Euro liegt, von dem sie sich eine goldene Zukunft erhofft hatten.

Vor ihrem Eintritt in die Europäische Währungsunion mußten die Länder der Peripherie hohe Zinsen zahlen, weil ihre Inflationsrate im Vergleich zur deutschen hoch war und ihre Währungen von Zeit zu Zeit abgewartet werden mußten, um ihre Wirtschaft konkurrenzfähig zu halten. Die Zinsen mußten hoch sein, um Kapital anzuziehen und es im Land zu halten. Nach dem Eintritt in die Europäische Währungsunion bestimmte die Europäische Zentralbank (EZB) die Geldpolitik und bisherige nationale Abwertungen unterblieben. Als Konsequenz sanken zweistellige Zinsniveaus, teilweise sogar von über 20 Prozent, über Nacht in die Nähe des deutschen Zinsniveaus. Die Regierungen und auch die privaten Akteure in der südlichen Peripherie nutzten dieses Zinsgeschenk aber nicht zur Modernisierung ihrer Industrie und zur Sanierung der nationalen Haushalte, sondern steigerten privaten und öffentlichen Konsum. Weil Geld im Vergleich zu früher fast nichts kostete, explodierten auch die Immobilienpreise und die Produktionsstruktur wurde verzerrt. 

Europäische Banken haben die Nachfrage nach billigem Geld bereitwillig befriedigt. Sie bedachten nicht, daß es auch bei einheitlicher Währung noch öffentliche und private Konkurse gibt. Griechenland hatte, um das zu verschleiern, die nationale Verschuldung jahrelang zu niedrig ausgewiesen. Als das offenkundig wurde, blieben die Zahlungseingänge aus und das Land war über Nacht zahlungsunfähig. Es hätte aus der Währungsunion ausscheiden müssen, da weder die Gemeinschaft noch einzelne Mitgliedstaaten für die Verpflichtungen eines anderen Mitgliedstaates einstehen – die sogenannte No-Bailout-Klausel. Dann hätten aber die großen Banken aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland hohe Verluste eingefahren. Es ist verständlich, daß sie ihren Regierungen zu verstehen gaben, daß dies auch negative Konsequenzen für die eigene Volkswirtschaft hätte. 

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sodann in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2010 ein finanzielles Hilfspaket nicht bloß für Griechenland, sondern für die gesamte Euro­zone geschnürt, indem sie einen Rettungsschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro aufspannten, unter den finanziell angeschlagene Euro-Staaten flüchten konnten. In Wirklichkeit wurden so Banken gerettet, die ihnen das Geld für ihre Ausgaben geliefert hatten. Die erste Finanzdrainage kam also vornehmlich leichtfertigen Banken zugute. Die Schuldnerstaaten waren zunächst bloß ein durchlaufender Posten. Sie mußten durch Einsparungen in ihren Haushalten Überschüsse erwirtschaften, um vorangegangene finanzpolitische Exzesse zu kompensieren. Wenn sie das aber nicht konnten, wurden sie wie Griechenland weiter alimentiert.

Diese erste Finanzdrainage hat aber nicht die Gefahr von Staatskonkursen aus der Welt schaffen können. Die Zinsen für italienische, spanische und portugiesische Staatsanleihen stiegen auch danach dermaßen an, daß absehbar war, daß die jeweiligen Regierungen diese Zinslast nicht länger würden tragen können und aus der Eurozone hätten ausscheiden müssen. Dann wäre die Eurozone auseinandergebrochen. Da dies politisch nicht gewollt war, haben die entscheidenden Politiker im Verein mit den USA die EZB mit der Rettung der Eurozone beauftragt. Am 26. Juli 2012 kam der Götterspruch. Der damalige Präsident der EZB, Mario Draghi, verkündete auf einer Investorenkonferenz in London, daß die EZB auf jeden Fall den Euro stützen werde, „what­ever it ­takes“ – egal wieviel es kostet. Da wußten die Akteure auf den Finanzmärkten, daß es in Zukunft keine Staatskonkurse in der Eurozone geben würde. Die Aktienkurse stiegen schlagartig, und die hohen Zinsen in den Schuldnerländern sanken in Richtung des deutschen Zinsniveaus, weil wieder Kapital in die Schuldnerländer floß. Als finanzielle Sicherheit galt nun, daß die Gläubigerstaaten für die Wackelkandidaten bürgten. Das war die zweite Finanzdrainage.

Der nach wie vor hohe Finanzbedarf in den Staaten der südlichen Peripherie und verbleibende Restrisiken hätten freilich für ein steigendes Zinsniveau und ein Zinsgefälle zu den Gläubigerstaaten sorgen können. Daraufhin hat die EZB ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen aufgelegt. Da die Europäischen Verträge eine monetäre Staatsfinanzierung verbieten, wurde ein Umweg gewählt: Die EZB kauft Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt, wobei Banken als Strohmänner dienen, die sich die zuvor übernommenen Staatspapiere nach einer gewissen Schamfrist von der EZB abkaufen lassen und für diese Hilfeleistung entlohnt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat an dieser Praxis immer Anstoß genommen, die EZB jedoch nicht frontal angegriffen, da es keine gerichtsfesten Beweise für monetäre Staatsfinanzierung vorlegen konnte. In seinem Urteil vom 5. Mai 2000 hat es jedoch festgehalten, daß die EZB die Nebenwirkungen dieser Politik beispielsweise gegenüber Sparern und Versicherungen nicht genügend bei ihren Entscheidungen berücksichtigt habe und daß die Bundesregierung nicht ihrer Pflicht, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, nachgekommen sei. Die mit dem Ankauf der Staatspapiere verbundene dritte Finanzdrainage belastet nicht die Haushalte der Gläubigerstaaten, sondern bringt deren Sparer um die Früchte ihrer Sparleistungen und um die Sicherung ihres Lebensabends.

Die vierte Finanzdrainage in Form eines Corona-Hilfsprogramms in Höhe von 750 Milliarden Euro ist der entscheidende Schritt in der Euro­zone in Richtung eines europäischen Mez­zo­gior­no. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Corona-Hilfen für die EU insgesamt für nötig erachtet, um diese vor einem Zerfall zu bewahren. Das war nur vorgeschoben – kein Land hätte den sicheren Hafen EU wegen der Corona-Krise verlassen. Dagegen wären Mitglieder der Eurozone unter Druck geraten, weil sie in einem Wechselkursverband – wie früher der Mez­zo­gior­no – ihre internationale Konkurrenzfähigkeit verloren hatten und ihre Steuerquellen ausgetrocknet waren. 

Über die Finanzdrainage sollen in den notleidenden Euro-Ländern Infrastrukturprogramme initiiert werden, die sonst unterblieben wären. So erhält allein Italien 209 Milliarden Euro, um Versäumnisse der Vergangenheit wettzumachen. Die Wirtschaftsexperten des Instituts für Weltwirtschaft Henning Klodt und Stefan Kooths haben herausgearbeitet, daß die Mittel aus diesem Fonds nichts zur Abwehr der Corona-Risiken beitrügen, weil im wesentlichen industrie- und technologiepolitische Transformationsprojekte finanziert würden, die erst zum Tragen kämen, wenn die Pandemie längst ausgestanden wäre.

Das Verhängnisvolle an dieser Konstruktion ist, daß die Finanzdrainage als Gemeinschaftsanleihe konzipiert wurde. Eine Konstruktion, bei der die Gemeinschaft zugunsten notleidender Mitgliedstaaten haftet, hat in der Geschichte noch nie funktioniert. Die Begünstigten können bei weiteren Notlagen immer damit rechnen, daß sie weiter finanziert werden. Warum sollten Politiker unpopuläre Sanierungsmaßnahmen riskieren, die ihre Wiederwahl gefährden, wenn sie darauf rechnen können, daß über die Finanzdrainage weitere Mittel ins Land gespült werden? Wenn der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag bei der Zustimmung zur Gemeinschaftsanleihe auf die Einmaligkeit der Notmaßnahme verwiesen hat, so muß er sich fragen lassen, wie Deutschland eine Hilfeleistung bei einer erneuten Notlage verweigern kann. Die vierte Finanzdrainage etabliert endgültig einen europäischen Mez­zo­gior­no.






Prof. Joachim Starbatty, Jahrgang 1940, ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Tübingen. Er klagte gegen die Euro-Einführung und war bis 2019 EU-Abgeordneter.