© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

Kindereien im Parlament
Der Deutsche Bundestag ist größer und teurer als je zuvor: Die Bedeutung ist nicht mitgewachsen
Kurt Zach

Wenn es wahr ist, daß jede Nation die Regierung und das Parlament bekommt, die sie verdient, dann müssen die Deutschen wohl einiges abzubüßen haben. Der zwanzigste Deutsche Bundestag, der sich in der letzten Oktoberwoche konstituiert hat, ist das größte und teuerste Parlament, das dieses Land sich je geleistet hat. Die Würde und Ernsthaftigkeit, die das Staatsvolk als Souverän von seinen Repräsentanten erwarten kann, ist indes nicht mit der Zahl der Abgeordneten gewachsen, sie hat im Gegenteil einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Da streitet sich die FDP seit Wochen in Kindergartenmanier mit der Union darum, wer im wahrscheinlich größten Stuhlkreis der Republik neben den bösen Buben von der AfD sitzen muß, als hätte das Land keine wichtigeren Probleme; kein Gedanke an die Achtung des gewählten Volksvertreters in jedem einzelnen Kollegen, gerade auch im politischen Gegner.

Das Bundestagspräsidium, das die Verhandlungen des „Hohen Hauses“ zu leiten hat, demonstriert schon im überwiegend miserablen Kleidungsstil fehlendes Verständnis für die Bedeutung des Amtes. Daß der AfD wiederum in einem Akt von Dauer­mobbing unter Mißachtung der selbstgegebenen Geschäftsordnung ein Sitz in dem Gremium verweigert wird, rundet das peinliche Bild ab.

Gewählte Abgeordnete, viele von ihnen erstmalig im Bundestag, kichern auf Schnappschüssen über Gefühle „wie am ersten Schultag“, veröffentlichen Klassenfahrt-Fotos mit „so vielen jungen Menschen unter 35“ in ihrer Fraktion, feiern sich als Vertreter ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder sonst einer gesellschaftlichen Gruppe; und eine Grüne echauffiert sich nicht etwa darüber, daß sie ein Papierarmbändchen wie auf einer Pauschalreise tragen muß, sondern daß dieses in den deutschen Freiheitsfarben Schwarz-Rot-Gold gehalten ist, dem Sinnbild der Nation, die sie vertreten soll und die sie in all ihrer geschichtspolitischen Ignoranz ebenso verachtet wie deren Farben.

Das Trauerspiel, das dem Bürger zu diesem Anlaß geboten wurde, konnte auch die Eröffnungsrede des scheidenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble nicht mindern. Der Parlamentsveteran, der auf eine bald fünfzigjährige Politikerlaufbahn zurückblickt, erteilte den 739 Abgeordneten eine Nachhilfestunde in Staatsbürgerkunde, versuchte ihnen den Unterschied von „Repräsentanz“ und „Repräsentativität“ zu erklären und erinnerte sie daran, daß die Verfassung ihnen aufgibt, Repräsentanten des ganzen Staatsvolks zu sein und nicht einer entlang deterministischer Merkmale definierten Gruppe. Ein deutlicher Wink insbesondere an die „Paritäts“-, Quoten- und „Identitäts“-Ideologen auf der linken Hälfte des parlamentarischen Halbrunds; ein Wink, den die wenigsten überhaupt verstanden haben dürften.

Fraglos wäre es naiv und realitätsfern, in Parlamentariern vergangener Wahlperioden unbestechliche Manifestationen der reinen Verfassungslehre erblicken zu wollen; auch Schäuble hat bekanntlich seine Schmutzflecken auf der Weste. Dennoch ist der Verfall an Niveau, Stil, Ernsthaftigkeit, Eloquenz und Sachkunde gegenüber jenen Jahrzehnten, in denen Wolfgang Schäuble seine politische Karriere begann, ebenso unübersehbar wie die sich verschärfende Negativauslese des politischen Personals.

Infantilisierung, Niveau- und Würdeverlust des Parlaments sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen. Der Bundestag ist auch hierin Spiegelbild der Gesellschaft, genauer gesprochen des in dieser vorherrschenden Diskurses. Seine äußerliche Aufblähung und der Ausbau der Privilegien seiner Angehörigen verläuft parallel zum Bedeutungsverlust und schwindenden Einfluß der legislativen Gewalt.

Immer mehr Abgeordnete haben immer weniger zu entscheiden. Während sie an Mitspracherechten verlieren, wächst ihre finanzielle und personelle Ausstattung zusammen mit den Ansprüchen. Und während sich die etablierte Parteienlandschaft von der Dominanz der ehemaligen Volksparteien verabschiedet und in Mittel- und Kleinparteien ausdifferenziert, verengt sich zugleich das von ihnen abgebildete Spektrum an Meinungen und Positionen.

In den sechzehn Merkel-Jahren hat diese Entwicklung zwar nicht begonnen, aber sie hat sich deutlich beschleunigt. Schon zu Beginn ihrer Regierungszeit hatte Altbundespräsident Roman Herzog in einer aufrüttelnden Wortmeldung den Bedeutungsverlust der nationalen und regionalen Parlamente als Folge der „Vertiefung“ der Europäischen Union benannt und die Frage gestellt, ob Deutschland überhaupt noch als demokratische Republik bezeichnet werden könne, wenn mehr als achtzig Prozent der Rechtsakte von Brüssel vorgegeben und von Bundestag und Landtagen nur noch durchgewunken würden.

Der Merkelsche Regierungsstil hat die Entmachtung der Parlamente weiter vorangetrieben. Bei Weichenstellungen, von der Euro-„Rettung“ unter Bruch des in den Verträgen festgelegten Mithaftungsverbots für fremde Staatsschulden über die Öffnung der Grenzen für unkontrollierte Migration bis zum Corona-Regime des unerklärten exekutiven Ausnahmezustands, wurde der Bundestag übergangen oder allenfalls zur nachträglichen Absegnung geschaffener Fakten herangezogen.

Zugleich wandelt sich Deutschland zur Gesinnungsrepublik, in der konformistische Einstellungen zu Glaubensfragen höheren Stellenwert haben als die argumentative Auseinandersetzung zu existentiellen Fragen der inneren Sicherheit, zu Wirtschafts- und Währungsfragen, zur Ausländer-, Außen-, Sicherheits- oder Geopolitik.

Eine entpolitisierte Öffentlichkeit, die mit Eifer an Klimaschutz-Vorschriften feilt und persönliche Impfentscheidungen zur Schicksalsfrage erhebt, doch bei Inflation, Deindustrialisierung und der nächsten Welle illegaler Massenmigration lediglich mit den Achseln zuckt, findet ihre Entsprechung in einem Politikertypus, der ein Abgeordnetenmandat als Belohnung für Wohlverhalten sieht und sich vor allem dem eigenen Wohl und dem der ihn tragenden Klientelgruppe verpflichtet fühlt.

Ein Wirtschaftsminister mit katastrophaler Bilanz, der sich mit einem hingeworfenen „Sorry für Fehler“ in den sicheren Ruhestand verabschiedet, mag sich auf der Höhe des Zeitgeistes der Verantwortungslosigkeit wähnen. Doch auch das lässigste „Nach mir die Sintflut“ verhindert nicht, daß die Woge der ungelösten Probleme doch noch über dem Floß der Illusionen zusammenschlägt.