© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/21 / 05. November 2021

„Die Stimmung ist nicht gut“
Frühzeitiger Kohleausstieg: Die Bundespolitik schreitet mit ihrem Plan voran / Zaghafte kritische Stimmen aus den betroffenen Gebieten
Paul Leonhard

Jetzt also 2030 statt 2038 für den Kohleausstieg. Die grüne Minderheit setzt ihre umweltpolitischen Ziele im Bund zielstrebig durch. Zwar gibt es noch immer kein tragfähiges Energiekonzept für das Industrieland Deutschland, aber immerhin eine vage Rückversicherung: das Versprechen der Nachbarländer, mit Strom – erzeugt von Atom- und Kohlekraftwerken – auszuhelfen, falls das Experiment so gründlich schiefgeht, wie viele Experten es erwarten.

Der zeitigere Kohleausstieg und damit der Verlust Zehntausender gut dotierter Tarifarbeitsplätze in der Energiewirtschaft waren am vergangenen Wochenende auch Thema auf dem Kongreß der Gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Hannover. Denn es droht ein politisches Erdbeben in den offenbar abgeschriebenen Regionen der Nieder- und Oberlausitz, also in der entlang von Oder und Neiße gelegenen Grenzregion, die außer 25.000 Arbeitsplätzen in der Kohleförderung und -verstromung nur wenig Wertschöpfung zu bieten hat. Es ist kaum vorstellbar, daß die Kumpel in Schwarze Pumpe und anderswo sich das Gerede vom Strukturwandel noch länger anhören werden.

Daß der mühsam ausgehandelte Kohlekompromiß, der einen Ausstieg bis 2038 vorsieht, gekippt wird, ist für Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der eine Regierung aus CDU, SPD und Grünen führt, „ganz schlechter politischer Stil“. Der Politiker stellt die Frage, die auch die Energiearbeiter beschäftigt: „Wem soll man denn noch glauben?“

Wie sollen Arbeitsplätze aus dem Hut gezaubert werden?

Die Menschen in der Grenzregion haben diese auf ihre Art beantwortet: Im Landkreis Görlitz hat jeder dritte bei der Bundestagswahl für die AfD gestimmt, nach der Stimmabgabe allerdings grüne Wunschträume serviert bekommen. „Die Stimmung ist nicht gut“, weiß Sachsens SPD-Co-Vorsitzende Kathrin Michel, die gegen einen Kohleausstieg vor 2038 ist. „Es darf nicht sein, daß wir das Klima gegen Arbeitsplätze ausspielen“, warnt die Bundestagsabgeordnete. Um Schadensbegrenzung bemüht sich Martin Dulig, Ost-Beauftragter der SPD und Vize-Premier in Sachsen: Auch im Kohlekompromiß stehe, daß es gegebenenfalls schneller gehen könne und im jetzigen Sondierungspapier lediglich „idealerweise“. Von „Vertrauensbruch“ könne keine Rede sein. Aber auch Dulig muß einräumen, daß bisher noch jegliche Voraussetzungen für den Kohleausstieg fehlen, weil unter anderem unklar ist, wie der „grüne“ Wasserstoff für die Stahl- und Chemieindustrie erzeugt werden soll. 

Alleine die Chemie-Industrie wird 2050 so viel Energie verbrauchen wie Deutschland heute insgesamt. Es gehe nicht allein um Ersatz für Atom- und Kohlestrom, sondern um die Erzeugung der nötigen „zusätzlichen Energie“, zeigte sich Olaf Scholz auf dem Gewerkschaftskongreß kämpferisch. Seine neue Regierung werde im ersten Jahr alle Weichen stellen, damit Deutschland keine Stromlücke hat.

Bei den Gewerkschaften laviert man zwischen der Stimmung der organisierten Arbeitnehmer im Osten und im Westen. Falls die künftige Ampelkoalition den Ausstieg aus der Kohleverstromung vorziehen wolle, müsse das „Tempo der Energiewende massiv gesteigert und die Neuansiedlung von Arbeitsplätzen und Wertschöpfung in den Revieren beschleunigt werden“, ließ sich DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann zitieren. Wie sollen aber 75.000 Arbeitsplätze aus dem Hut gezaubert werden? In der Lausitz wurden bisher gerade einmal 100 durch ein neues Bahnausbesserungswerk in Cottbus geschaffen. Und wie soll die Energiewende innerhalb von nur acht Jahren gelingen? Wenn in Kretschmer und seinem Brandenburger Amtskollegen Dietmar Woidke die Erkenntnis gereift ist, daß sich das „nicht einfach politisch entscheiden“ läßt, sondern auch „technisch gelöst“ werden muß, dürfen sie geradezu als Vordenker im deutschen Politikbetrieb gelten.